Sunday, June 24, 2012

200 Jahre jüdische Geschichte in Rössing (20)



Familienschicksale: Dramatische Flucht aus Nazi-Deutschland.

 

Lore Blumenthal berichtet 1995:


      Ich schreibe diesen Bericht hauptsächlich für meinen Bruder Werner. So oft ich auch versuchte ihm davon zu erzählen, was damals geschah, konnte ich mein Vorhaben nicht zu Ende bringen. Zugleich hoffe ich, mir hiermit das Geschehen von der Seele schreiben zu können.
                                               *          *          *
    In der Nacht des 8. November 1938, vielmehr in den frühen Morgenstunden des 9. November – es war etwa 2 Uhr – schellte es ohne Unterbrechung. Man hatte ein Streichholz neben den Klingelknopf geklemmt. Man versetzte uns zunächst in Schrecken, während man dabei war, eine andere Wohnung in der Nähe zu demolieren.

    Papa brachte Mutti, Opa und mich ganz leise auf den Dachboden und schloß uns dort in einen kleinen Raum ein. Er selbst und Hermann blieben unten in der Wohnung.

    Endlich hatten die Nazis ihr Werk weiter unten auf der Straße beendet und nun waren wir an der Reihe: Etwa 20 bis 25 SA-Leute jagten Papa und Hermann aus unserer Wohnung ins Treppenhaus. Dort mußten sie mit dem Gesicht zur Wand und hoch erhobenen Händen stehen bleiben. Die SA-Leute trugen alle hölzerne oder stählerne Knüppel bei sich (wahrscheinlich waren es die üblichen Gummiknüppel, Anm. d. Verfassers). Ob sie Papa oder Hermann geschlagen haben, weiß ich nicht. Keiner von beiden hätte uns davon erzählt.

    Oben auf dem Boden hörten Mutti und ich lautes Krachen und wir zitterten am ganzen Leibe. Opa war doch taub und so war es nicht leicht, ihn zu beruhigen, zumal wir uns ihm in der Dunkelheit nicht verständlich machen konnten. Nach den längsten zwei Stunden in unserm Leben wurde es wieder ruhig und Papa kam, um uns zu holen.

    Als wir in unsere Wohnung kamen, sahen wir, dass alles kaputtgeschlagen war. Überall lag zerbrochenes Glas. Papa sagte zu Mutti: Alles ist ruiniert. Muttis Antwort: Hauptsache, dass dir nichts passiert ist.!

    Jedes Bild war zerschnitten, jedes Einrichtungsteil zerschlagen. Silber, sowie Bettwäsche waren aus dem Fenster geworfen, Muttis Schmuck war gestohlen worden. Man konnte sich nirgends hinsetzen, da alles voller Glasscherben war. Wir versuchten ein wenig wegzuräumen, damit Mutti sich etwas hinlegen konnte. Inzwischen dämmerte es schon.

Ich schaute aus dem bleiverglasten, bunten Fenster in Opas Zimmer, wo ich selbst nicht gesehen werden konnte. Von dort aus sah ich, wie die Synagoge brannte.

    Gegen 8 oder 9 Uhr vormittags kam wieder eine Horde SA-Leute und verhafteten Papa und Hermann. Sie, wie alle andern männliche Juden in Bochum, brachte man auf die Polizeiwache.

    An diesem Tag hatten die Kinder schulfrei. Etliche folgten einem SA-Mann, der mal bei uns angestellt gewesen war, und der sie aufforderte, Steine in unsere Wohnung zu werfen und so noch das letzte heile Glas zu zertrümmern. Wir schlossen alle Türen und verbrachten die meiste Zeit des Tages im Flur, damit wir nicht selbst von Steinen getroffen wurden. Da wir die Nacht nicht in der Wohnung verbringen konnten, gingen wir eine Etage höher zu Lyons, die uns erlaubten, in ihrer Küche zu schlafen. Am nächsten Tag halfen Karl-Heinz und Frau Müller uns bei dem Versuch aufzuräumen.

   Wenige Tage nach ihrer Verhaftung wurden Papa und Hermann in Viehwagen in das KZ Sachsenhausen bei Berlin transportiert. Erstmals musste Mutti allein die Verantwortung für uns tragen.

   Zu dieser Zeit war Werner in Berlin, ging dort zur ORT-Schule, um eine Schlosserlehre zu machen. Er war gerade 15 Jahre alt – aber die Gestapo in Bochum suchte ihn. Kurz darauf ergab sich für 10 Jungen der ORT – Schule die Möglichkeit, mit einem Kindertransport nach England auszureisen. Werner sollte dabei sein. Mutti war bemüht, ihn sicher auf den Transport zu bringen. Als dann der Krieg ausbrach, wurden Werner und die andern Jugendlichen zu „feindlichen Ausländern“, später interniert und für einige Jahre in Kanada hinter Stacheldraht verbannt.

    In Bochum war Mutti immer wieder zur Gestapo gegangen  -   das fiel ihr verständlicherweise sehr schwer  -, um sich nach Papa und Hermann zu erkundigen.  Nach etwa sechs Wochen sagte man ihr, dass Papa entlassen würde, was dann auch passierte.

    Als Papa das KZ Sachsenhausen verlassen konnte, war sein erster Weg zu der Adresse, wo Werner in Berlin gewohnt hatte. Dort erfuhr er, dass dieser nach England emigriert war. Das traf ihn zunächst schwer, doch zugleich war er glücklich, seinen Sohn in Sicherheit zu wissen. Endlich kam Papa nach Hause. Seine Haare waren abrasiert, sein Anzug kaum wieder zu erkennen, so zerknittert war er. In Sachsenhausen hatte man alle Kleider in irgendeiner Desinfektionsmaschine so behandelt, dass sie nie wieder glatt werden konnten. Etwa zwei Wochen später kam auch Hermann.

-   Es begannen verstärkt die Mühen, eine Ausreisemöglichkeit aus Deutschland zu finden. Papa versuchte es mit jedem erdenkbaren Land: Argentinien, Chile, Brasilien  usw. Aber alle Staaten hatten ihre Grenzen geschlossen. In ihrer Verzweiflung beschloß die Familie, einen illegalen Ausweg zu finden. Man wollte nachts durch den Wald über die Grenze nach Belgien marschieren. Menschen, die uns „über die grüne Grenze“ brngen wollten, waren gefunden, bezahlt und alles war vorbereitet. In letzter Minute gab Papa einer bösen Ahnung nach und es wurde entschieden, die Sache abzublasen. Alle Leute, die in dieser Nacht den gleichen Weg wählten, wurden erfasst und erschossen.

Juden durften nur noch zwischen vier und fünf Uhr nachmittags einkaufen. Da alle Lebensmittel schon rationiert waren, gab es um diese Zeit kaum noch etwas zu kaufen. Einige Läden weigerten sich auch, uns zu bedienen. Nichtjüdische Freunde sorgten dafür, dass wir dennoch bekamen, was wir brauchten.

    1939 wurde ich mit einem Kindertransport nach Holland geschickt. Es war für mich eine schreckliche Zeit. Ich hatte furchtbares Heimweh.
    Kurz nach meiner Abreise nach Holland beschlagnahmte die Gestapo unsere Wohnung. Die SS brauchte sie. Zu unserm Glück hatten wir so gute Freunde wie Lewkonjas, die Mutti, Papa und Hermann bei sich aufnahmen. Opa hatte die Familie bereits in ein Altersheim eingekauft, in der Hoffnung, dass er dort seinen Lebensabend unter seinesgleichen verbringen könnte. Er kam dennoch nach Theresienstadt und kam dort um.

Papa war damit beschäftigt, vielen jüdischen Familien in Bochum bei dem vielen Papierkram zu helfen, der zur Emigration anfiel. Die Hapag, ein Reisebüro in Essen, hatte ihn angestellt; so konnte er den Auswanderern bei der Beschaffung ihrer Passagen behilflich zu sein.

Endlich konnte Papa Visa für Kuba bekommen. Die Gestapo liess mich grosszügig aus Holland zurückkommen -  für drei Tage! - ,um dann mit der Familie nach Kuba auszureisen. Hermann holte mich an der Grenze ab. Als wir zu Hause ankamen, machte uns Mutti die Türe auf. Sie war weiss wie ein Gespenst. Gerade hatten sie die Nachricht erhalten, dass auch Kuba seine Grenzen geschlossen hatte.

    Was mich betraf: Ich war glücklich, wieder bei der Familie sein zu können. Da die Gestapo wußte, dass wir verzweifelt versuchten auszuwandern, machte man uns keine zusätzlichen Schwierigkeiten. Zu dieser Zeit mußte jeder jüdische Mann den Namen Israel, jede Frau den Namen Sara annehmen.

    Eines Tages wurde allen polnischen Juden befohlen, binnen zwei Stunden zur Deportation auf dem Bahnhof zu erscheinen. Sie durften jeweils nur einen Koffer mitnehmen. Mutti, Papa und Hermann sowie auch Lewkonjas stellten Tische auf dem Bahnsteig auf; Mutti, und Grete Lewkonja schmierten Brote für die Betroffenen, Papa und die andern halfen ihnen bei ihrem Gepäck. In ihrer Aufregung und der Eile hatten sie die unwichtigsten Dinge eingepackt. Papa sorgte dafür, dass möglichst jeder eine Decke und warme Kleidung dabei hatte anstelle unnützer Dinge.

    An diesem Abend ließ Papa jeden von uns einen Koffer packen – nur warme und feste Kleidung. Diese Koffer sollten unter den Betten und immer bereit bleiben.

    Damals gab es fast nächtlich Bombenangriffe und wir verbrachten die meiste Zeit im Luftschutzkeller. Wir gingen angezogen ins Bett, da wir sonst zum Anziehen keine Zeit haben würden. Manchmal stand ich im Dunkeln mit Papa am Fenster und wir beobachteten Luftkämpfe zwischen deutschen und britischen Fliegern.

    Nun suchte Papa nach Wegen, in die USA zu kommen. Da wir dort keine Verwandten hatten, brauchten wir dazu erhebliche Bürgschaften. Unser guter Freund Felix Röttgen, der bereits in Amerika war, schlug vor, dass Hermann erst allein kommen solle. Es wäre leichter, eine Bürgschaft für eine Person zu bekommen und würde für uns einfacher, da wir dann ja einen Verwandten dort hätten.

   Hermann fuhr schließlich allein, mit schwerem Herzen. Seit vielen Jahren trennte er sich erstmals von uns, seiner Familie. Als er erst einmal dort war, gelang es ihm mit Felix, ausreichende Bürgschaften für uns zu bekommen.

Als schliesslich unsere Quotennummer beim amerikanischen Konsulat an die Reihe kam forderte man uns auf, zu einem bestimmten Zeitpunkt dort zu erscheinen. Wir sollten einen Beweis vorlegen, daß wir im Besitz einer Überfahrtsbuchung waren. Was Papa uns erst viel später erzählte: Er hatte eine Scheinbuchung gemacht, die aber die Unterschrift des Hapag-Managers trug. In seinem Vertrauen zu Papa  hatte er die Papiere unterschrieben ohne zu wissen, dass sie falsch waren. Während der ganzen Zeit hatte Papa auch Geld an die Hapag in Madrid für uns überwiesen, um damit eines Tages eine echte Passage nach Amerika buchen zu können.

    Schließlich fuhren wir nach Stuttgart zum amerikanischen Konsulat. Unsere Fingerabdrücke wurden registriert und wir mussten zu einer ärztlichen Untersuchung. Vor lauter Angst war ich leichenblass, worauf Mutti mich ständig in die Wangen kniff, damit ich gesunder aussehe. Sie selbst half sich mit etwas mehr Rouge.

   Wir erhielten unsere Visa zur Einreise in die USA am 27. Mai 1941. Onkel Pitz brachte uns zum Flughafen. Es war schwer, Abschied zu nehmen. Wir wussten aber, dass Pitzens Nummer bald an die Reihe kommen und er uns nachfolgen würde. Als es sich von Papa verabschiede flüsterte er ihm zu: Gestern Abend hat das amerikanische Konsulat seine Pforten geschlossen. Das hiess, : Es gab keine Visa mehr für die USA. Da Papa ja wusste, wie sehr Mutti an ihrem Bruder hing, hat er ihr diese Nachricht erst einmal verschwiegen.

    Wir durften jeder 10 US-$ und nur einen Koffer mitnehmen. Mutti und ich hatten darum so viele Sachen angezogen, dass ich kaum gehen, geschweige denn atmen konnte.

    Nun waren wir endlich in der Maschine. Erste Landung: Münschen. Alle Passagiere mußten aussteigen und plötzlich waren wir drei ausgesondert, um von Kopf bis Fuss durchsucht zu werden. Mit all den Kleidungsstücken am Leib brauchte ich verständlicherweise sehr lange, um mich auszuziehen. Endlich durften wir wieder an Bord. Beim Abflug sagte Papa:“ Atmet tief durch, wir sind raus. Die nächste Landung ist in Lyon.“ Als wir dort landeten, kam uns als erstes ein SS-Mann vor die Augen. Zum Glück wurden wir nicht belästigt.

    Es ging weiter nach Madrid. Mir war die ganze Zeit über schlecht – kein Wunder, da ich vor lauter Kleidung kaum atmen konnte. In Madrid waren es fast 40° C, es war Juni. Ich entledigte mich darum erst einmal aller Anziehsachen bis auf ein Kleid.

   Papa hatte in Madrid für ein Hotelzimmer vorgesorgt, wiederum durch die Hapag, wir wussten also, wohin. In diesem Hotel wohnten auch zahlreiche andere Flüchtlinge. Am nächsten Tag bemühte sich Papa bei der Hapag um eine Passage in die USA.

    Nach einigen Wochen war endlich ein Schiff gefunden, das Platz für uns hatte. Es würde aber ab Lissabon fahren. Ich glaube, sein Name war „Balboa“. Nun ging es wieder Tag für Tag zur Jagd auf ein Visum ins portugiesische Konsulat. Und von Woche zu Woche verschob sich der Abfahrtstermin des Schiffes. Schliesslich sollte es übermorgen um 5.30 Uhr nachmittags ab Lissabon losgehen.

   Am nächsten Tag erhielten wir endlich unsere Visa für Portugal sowie einen Flug, der mittags um eins aus Madrid nach Lissabon starten sollte. Damit konnten wir gerade noch rechtzeitig das Schiff erreichen. Nun – wir kamen in ein kräftiges Gewitter. Der Pilot bemühte sich, dem Unwetter auszuweichen, hatte dann aber nicht mehr genug Treibstoff!. Kannst du dir Mutti vorstellen im Flugzeug bei einem Gewitter?!

    Wir mussten Notlandung in Casanez machen.  Dort gab es nur eine kleine Landebahn, nur einen Krug voll Wasser, aber kein Benzin. Das musste erst aus Madrid besorgt werden. Man brachte uns auf Kosten der Fluggesellschaft in einem Hotel unter. Die Räume waren aber voller Ungeziefer und wir blieben die ganze Nacht auf. Natürlich hatte inzwischen unser Schiff den Hafen ohne uns verlassen. Am nächsten Tag kam das Benzin und wie konnten weiterfliegen.

In Lissabon brachte Papa Mutti und mich wieder in ein Hotel und ging sofort zur „Hias“, um Hilfe zu bekommen. Als erstes holte man uns aus dem offenbar teuren Hotel heraus und brachte uns bei einer jüdischen Familie in Lissabon unter.

    Die „Hias“ ist eine jüdische Hilfsorganisation, die nicht nur jüdischen Menschen zur Verfügung steht sondern allen, die Hilfe brauchen. Jeden Tag ging Papa dort hin, um eine andere Passage aufzutreiben. Schliesslich sagte man ihm, dass schon morgen ein amerikanisches Schiff führe, dass aber nur eine Kabine zur Verfügung stehe. Wir hätten uns inzwischen schon mit einer halben Kabine begnügt. An Geld fehlten uns allerdings 35 US $. Die „Hias“ half uns aus und so konnten wir am 15. August 1941 An Bord der „Excalibur“ gehen. Der nächste Tag war mein Geburtstag und den durfte ich nun auf amerikanischem (Schiffs-)Boden feiern.

    Zehn Tage lang war ich seekrank, bis wir schliesslich am 25. August 1941 unser Ziel erreichten. Am frühen Morgen, bei der Einfahrt in den Hafen von New York, standen wir alle an Deck, um mit ungläubigen Augen die Dame des Hafens zu begrüssen, die Freiheitsstatue. Damals habe ich zum ersten Mal im Leben Papa weinen sehen. Der Mann, der nicht nur für uns, sondern auch für so viele Menschen ein Fels in der Brandung gewesen war, konnte endlich wieder tief durchatmen. Es war ein glücklicher Tag.

    Hermann, Felix und Lisa Röttgen empfingen uns am Pier. Sie brachten uns zum Haus des Rabbiners Steven Weiss. Dort wurden wir Neuankömmlinge untergebracht. Sie konnten dort kostenlos wohnen, bis sie Arbeit gefunden hatten und in der Lage waren, eine Wohnung zu mieten. Papa fand schon nach fünf Tagen Arbeit und Mutti wenige Tage danach. Ich übernahm die Haushaltspflichten. Als erstes schickte Papa die geborgten 35 $ an die „Hias“.. Über die Jahre haben wir ihnen noch manche Spende gesandt, damit sie weiter vielen Menschen helfen sollten.

    Ein weiterer glücklicher Tag wurde der 17. März 1947. An diesem Tag wurden wir als Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. 

No comments:

Post a Comment