Familienschicksale: Dramatische Flucht aus
Nazi-Deutschland.
Lore Blumenthal berichtet 1995:
Ich schreibe
diesen Bericht hauptsächlich für meinen Bruder Werner. So oft ich auch
versuchte ihm davon zu erzählen, was damals geschah, konnte ich mein Vorhaben
nicht zu Ende bringen. Zugleich hoffe ich, mir hiermit das Geschehen von der
Seele schreiben zu können.
* * *
In der Nacht des 8. November 1938, vielmehr
in den frühen Morgenstunden des 9. November – es war etwa 2 Uhr – schellte es
ohne Unterbrechung. Man hatte ein Streichholz neben den Klingelknopf geklemmt.
Man versetzte uns zunächst in Schrecken, während man dabei war, eine andere
Wohnung in der Nähe zu demolieren.
Papa brachte
Mutti, Opa und mich ganz leise auf den Dachboden und schloß uns dort in einen
kleinen Raum ein. Er selbst und Hermann blieben unten in der Wohnung.
Endlich hatten die
Nazis ihr Werk weiter unten auf der Straße beendet und nun waren wir an der
Reihe: Etwa 20 bis 25 SA-Leute jagten Papa und Hermann aus unserer Wohnung ins
Treppenhaus. Dort mußten sie mit dem Gesicht zur Wand und hoch erhobenen Händen
stehen bleiben. Die SA-Leute trugen alle hölzerne oder stählerne Knüppel bei
sich (wahrscheinlich waren es die üblichen Gummiknüppel, Anm. d. Verfassers).
Ob sie Papa oder Hermann geschlagen haben, weiß ich nicht. Keiner von beiden
hätte uns davon erzählt.
Oben auf dem Boden
hörten Mutti und ich lautes Krachen und wir zitterten am ganzen Leibe. Opa war
doch taub und so war es nicht leicht, ihn zu beruhigen, zumal wir uns ihm in
der Dunkelheit nicht verständlich machen konnten. Nach den längsten zwei
Stunden in unserm Leben wurde es wieder ruhig und Papa kam, um uns zu holen.
Als wir in unsere
Wohnung kamen, sahen wir, dass alles kaputtgeschlagen war. Überall lag
zerbrochenes Glas. Papa sagte zu Mutti: Alles ist ruiniert. Muttis Antwort:
Hauptsache, dass dir nichts passiert ist.!
Jedes Bild war
zerschnitten, jedes Einrichtungsteil zerschlagen. Silber, sowie Bettwäsche
waren aus dem Fenster geworfen, Muttis Schmuck war gestohlen worden. Man konnte
sich nirgends hinsetzen, da alles voller Glasscherben war. Wir versuchten ein
wenig wegzuräumen, damit Mutti sich etwas hinlegen konnte. Inzwischen dämmerte
es schon.
Ich schaute aus dem bleiverglasten, bunten Fenster in Opas
Zimmer, wo ich selbst nicht gesehen werden konnte. Von dort aus sah ich, wie
die Synagoge brannte.
Gegen 8 oder 9 Uhr
vormittags kam wieder eine Horde SA-Leute und verhafteten Papa und Hermann.
Sie, wie alle andern männliche Juden in Bochum, brachte man auf die
Polizeiwache.
An diesem Tag
hatten die Kinder schulfrei. Etliche folgten einem SA-Mann, der mal bei uns
angestellt gewesen war, und der sie aufforderte, Steine in unsere Wohnung zu
werfen und so noch das letzte heile Glas zu zertrümmern. Wir schlossen alle
Türen und verbrachten die meiste Zeit des Tages im Flur, damit wir nicht selbst
von Steinen getroffen wurden. Da wir die Nacht nicht in der Wohnung verbringen
konnten, gingen wir eine Etage höher zu Lyons, die uns erlaubten, in ihrer
Küche zu schlafen. Am nächsten Tag halfen Karl-Heinz und Frau Müller uns bei
dem Versuch aufzuräumen.
Wenige Tage nach
ihrer Verhaftung wurden Papa und Hermann in Viehwagen in das KZ Sachsenhausen
bei Berlin transportiert. Erstmals musste Mutti allein die Verantwortung für
uns tragen.
Zu dieser Zeit war
Werner in Berlin, ging dort zur ORT-Schule, um eine Schlosserlehre zu machen.
Er war gerade 15 Jahre alt – aber die Gestapo in Bochum suchte ihn. Kurz darauf
ergab sich für 10 Jungen der ORT – Schule die Möglichkeit, mit einem
Kindertransport nach England auszureisen. Werner sollte dabei sein. Mutti war
bemüht, ihn sicher auf den Transport zu bringen. Als dann der Krieg ausbrach,
wurden Werner und die andern Jugendlichen zu „feindlichen Ausländern“, später
interniert und für einige Jahre in Kanada hinter Stacheldraht verbannt.
In Bochum war
Mutti immer wieder zur Gestapo gegangen
- das fiel ihr
verständlicherweise sehr schwer -, um sich
nach Papa und Hermann zu erkundigen.
Nach etwa sechs Wochen sagte man ihr, dass Papa entlassen würde, was
dann auch passierte.
Als Papa das KZ
Sachsenhausen verlassen konnte, war sein erster Weg zu der Adresse, wo Werner
in Berlin gewohnt hatte. Dort erfuhr er, dass dieser nach England emigriert
war. Das traf ihn zunächst schwer, doch zugleich war er glücklich, seinen Sohn
in Sicherheit zu wissen. Endlich kam Papa nach Hause. Seine Haare waren
abrasiert, sein Anzug kaum wieder zu erkennen, so zerknittert war er. In
Sachsenhausen hatte man alle Kleider in irgendeiner Desinfektionsmaschine so
behandelt, dass sie nie wieder glatt werden konnten. Etwa zwei Wochen später
kam auch Hermann.
- Es begannen
verstärkt die Mühen, eine Ausreisemöglichkeit aus Deutschland zu finden. Papa
versuchte es mit jedem erdenkbaren Land: Argentinien, Chile, Brasilien usw. Aber alle Staaten hatten ihre Grenzen
geschlossen. In ihrer Verzweiflung beschloß die Familie, einen illegalen Ausweg
zu finden. Man wollte nachts durch den Wald über die Grenze nach Belgien
marschieren. Menschen, die uns „über die grüne Grenze“ brngen wollten, waren
gefunden, bezahlt und alles war vorbereitet. In letzter Minute gab Papa einer
bösen Ahnung nach und es wurde entschieden, die Sache abzublasen. Alle Leute,
die in dieser Nacht den gleichen Weg wählten, wurden erfasst und erschossen.
Juden durften nur noch zwischen vier und fünf Uhr
nachmittags einkaufen. Da alle Lebensmittel schon rationiert waren, gab es um
diese Zeit kaum noch etwas zu kaufen. Einige Läden weigerten sich auch, uns zu
bedienen. Nichtjüdische Freunde sorgten dafür, dass wir dennoch bekamen, was
wir brauchten.
1939 wurde ich mit
einem Kindertransport nach Holland geschickt. Es war für mich eine schreckliche
Zeit. Ich hatte furchtbares Heimweh.
Kurz nach meiner
Abreise nach Holland beschlagnahmte die Gestapo unsere Wohnung. Die SS brauchte
sie. Zu unserm Glück hatten wir so gute Freunde wie Lewkonjas, die Mutti, Papa
und Hermann bei sich aufnahmen. Opa hatte die Familie bereits in ein Altersheim
eingekauft, in der Hoffnung, dass er dort seinen Lebensabend unter
seinesgleichen verbringen könnte. Er kam dennoch nach Theresienstadt und kam
dort um.
Papa war damit beschäftigt, vielen jüdischen Familien in
Bochum bei dem vielen Papierkram zu helfen, der zur Emigration anfiel. Die
Hapag, ein Reisebüro in Essen, hatte ihn angestellt; so konnte er den
Auswanderern bei der Beschaffung ihrer Passagen behilflich zu sein.
Endlich konnte Papa Visa für Kuba bekommen. Die Gestapo
liess mich grosszügig aus Holland zurückkommen - für drei Tage! - ,um dann mit der Familie
nach Kuba auszureisen. Hermann holte mich an der Grenze ab. Als wir zu Hause
ankamen, machte uns Mutti die Türe auf. Sie war weiss wie ein Gespenst. Gerade
hatten sie die Nachricht erhalten, dass auch Kuba seine Grenzen geschlossen
hatte.
Was mich betraf:
Ich war glücklich, wieder bei der Familie sein zu können. Da die Gestapo wußte,
dass wir verzweifelt versuchten auszuwandern, machte man uns keine zusätzlichen
Schwierigkeiten. Zu dieser Zeit mußte jeder jüdische Mann den Namen Israel,
jede Frau den Namen Sara annehmen.
Eines Tages wurde
allen polnischen Juden befohlen, binnen zwei Stunden zur Deportation auf dem
Bahnhof zu erscheinen. Sie durften jeweils nur einen Koffer mitnehmen. Mutti,
Papa und Hermann sowie auch Lewkonjas stellten Tische auf dem Bahnsteig auf;
Mutti, und Grete Lewkonja schmierten Brote für die Betroffenen, Papa und die
andern halfen ihnen bei ihrem Gepäck. In ihrer Aufregung und der Eile hatten
sie die unwichtigsten Dinge eingepackt. Papa sorgte dafür, dass möglichst jeder
eine Decke und warme Kleidung dabei hatte anstelle unnützer Dinge.
An diesem Abend
ließ Papa jeden von uns einen Koffer packen – nur warme und feste Kleidung.
Diese Koffer sollten unter den Betten und immer bereit bleiben.
Damals gab es fast
nächtlich Bombenangriffe und wir verbrachten die meiste Zeit im
Luftschutzkeller. Wir gingen angezogen ins Bett, da wir sonst zum Anziehen
keine Zeit haben würden. Manchmal stand ich im Dunkeln mit Papa am Fenster und
wir beobachteten Luftkämpfe zwischen deutschen und britischen Fliegern.
Nun suchte Papa
nach Wegen, in die USA zu kommen. Da wir dort keine Verwandten hatten,
brauchten wir dazu erhebliche Bürgschaften. Unser guter Freund Felix Röttgen,
der bereits in Amerika war, schlug vor, dass Hermann erst allein kommen solle.
Es wäre leichter, eine Bürgschaft für eine Person zu bekommen und würde für uns
einfacher, da wir dann ja einen Verwandten dort hätten.
Hermann fuhr
schließlich allein, mit schwerem Herzen. Seit vielen Jahren trennte er sich
erstmals von uns, seiner Familie. Als er erst einmal dort war, gelang es ihm
mit Felix, ausreichende Bürgschaften für uns zu bekommen.
Als schliesslich unsere Quotennummer beim amerikanischen
Konsulat an die Reihe kam forderte man uns auf, zu einem bestimmten Zeitpunkt
dort zu erscheinen. Wir sollten einen Beweis vorlegen, daß wir im Besitz einer
Überfahrtsbuchung waren. Was Papa uns erst viel später erzählte: Er hatte eine
Scheinbuchung gemacht, die aber die Unterschrift des Hapag-Managers trug. In
seinem Vertrauen zu Papa hatte er die
Papiere unterschrieben ohne zu wissen, dass sie falsch waren. Während der
ganzen Zeit hatte Papa auch Geld an die Hapag in Madrid für uns überwiesen, um
damit eines Tages eine echte Passage nach Amerika buchen zu können.
Schließlich fuhren
wir nach Stuttgart zum amerikanischen Konsulat. Unsere Fingerabdrücke wurden
registriert und wir mussten zu einer ärztlichen Untersuchung. Vor lauter Angst
war ich leichenblass, worauf Mutti mich ständig in die Wangen kniff, damit ich
gesunder aussehe. Sie selbst half sich mit etwas mehr Rouge.
Wir erhielten
unsere Visa zur Einreise in die USA am 27. Mai 1941. Onkel Pitz brachte uns zum
Flughafen. Es war schwer, Abschied zu nehmen. Wir wussten aber, dass Pitzens
Nummer bald an die Reihe kommen und er uns nachfolgen würde. Als es sich von
Papa verabschiede flüsterte er ihm zu: Gestern Abend hat das amerikanische
Konsulat seine Pforten geschlossen. Das hiess, : Es gab keine Visa mehr für die
USA. Da Papa ja wusste, wie sehr Mutti an ihrem Bruder hing, hat er ihr diese
Nachricht erst einmal verschwiegen.
Wir durften jeder
10 US-$ und nur einen Koffer mitnehmen. Mutti und ich hatten darum so viele
Sachen angezogen, dass ich kaum gehen, geschweige denn atmen konnte.
Nun waren wir
endlich in der Maschine. Erste Landung: Münschen. Alle Passagiere mußten
aussteigen und plötzlich waren wir drei ausgesondert, um von Kopf bis Fuss
durchsucht zu werden. Mit all den Kleidungsstücken am Leib brauchte ich
verständlicherweise sehr lange, um mich auszuziehen. Endlich durften wir wieder
an Bord. Beim Abflug sagte Papa:“ Atmet tief durch, wir sind raus. Die nächste
Landung ist in Lyon.“ Als wir dort landeten, kam uns als erstes ein SS-Mann vor
die Augen. Zum Glück wurden wir nicht belästigt.
Es ging weiter
nach Madrid. Mir war die ganze Zeit über schlecht – kein Wunder, da ich vor
lauter Kleidung kaum atmen konnte. In Madrid waren es fast 40° C, es war Juni.
Ich entledigte mich darum erst einmal aller Anziehsachen bis auf ein Kleid.
Papa hatte in
Madrid für ein Hotelzimmer vorgesorgt, wiederum durch die Hapag, wir wussten
also, wohin. In diesem Hotel wohnten auch zahlreiche andere Flüchtlinge. Am
nächsten Tag bemühte sich Papa bei der Hapag um eine Passage in die USA.
Nach einigen
Wochen war endlich ein Schiff gefunden, das Platz für uns hatte. Es würde aber
ab Lissabon fahren. Ich glaube, sein Name war „Balboa“. Nun ging es wieder Tag
für Tag zur Jagd auf ein Visum ins portugiesische Konsulat. Und von Woche zu
Woche verschob sich der Abfahrtstermin des Schiffes. Schliesslich sollte es
übermorgen um 5.30 Uhr nachmittags ab Lissabon losgehen.
Am nächsten Tag
erhielten wir endlich unsere Visa für Portugal sowie einen Flug, der mittags um
eins aus Madrid nach Lissabon starten sollte. Damit konnten wir gerade noch
rechtzeitig das Schiff erreichen. Nun – wir kamen in ein kräftiges Gewitter.
Der Pilot bemühte sich, dem Unwetter auszuweichen, hatte dann aber nicht mehr
genug Treibstoff!. Kannst du dir Mutti vorstellen im Flugzeug bei einem
Gewitter?!
Wir mussten
Notlandung in Casanez machen. Dort gab
es nur eine kleine Landebahn, nur einen Krug voll Wasser, aber kein Benzin. Das
musste erst aus Madrid besorgt werden. Man brachte uns auf Kosten der
Fluggesellschaft in einem Hotel unter. Die Räume waren aber voller Ungeziefer
und wir blieben die ganze Nacht auf. Natürlich hatte inzwischen unser Schiff
den Hafen ohne uns verlassen. Am nächsten Tag kam das Benzin und wie konnten
weiterfliegen.
In Lissabon brachte Papa Mutti und mich wieder in ein Hotel
und ging sofort zur „Hias“, um Hilfe zu bekommen. Als erstes holte man uns aus
dem offenbar teuren Hotel heraus und brachte uns bei einer jüdischen Familie in
Lissabon unter.
Die „Hias“ ist
eine jüdische Hilfsorganisation, die nicht nur jüdischen Menschen zur Verfügung
steht sondern allen, die Hilfe brauchen. Jeden Tag ging Papa dort hin, um eine
andere Passage aufzutreiben. Schliesslich sagte man ihm, dass schon morgen ein
amerikanisches Schiff führe, dass aber nur eine Kabine zur Verfügung stehe. Wir
hätten uns inzwischen schon mit einer halben Kabine begnügt. An Geld fehlten
uns allerdings 35 US $. Die „Hias“ half uns aus und so konnten wir am 15.
August 1941 An Bord der „Excalibur“ gehen. Der nächste Tag war mein Geburtstag
und den durfte ich nun auf amerikanischem (Schiffs-)Boden feiern.
Zehn Tage lang war
ich seekrank, bis wir schliesslich am 25. August 1941 unser Ziel erreichten. Am
frühen Morgen, bei der Einfahrt in den Hafen von New York, standen wir alle an
Deck, um mit ungläubigen Augen die Dame des Hafens zu begrüssen, die
Freiheitsstatue. Damals habe ich zum ersten Mal im Leben Papa weinen sehen. Der
Mann, der nicht nur für uns, sondern auch für so viele Menschen ein Fels in der
Brandung gewesen war, konnte endlich wieder tief durchatmen. Es war ein
glücklicher Tag.
Hermann, Felix und
Lisa Röttgen empfingen uns am Pier. Sie brachten uns zum Haus des Rabbiners
Steven Weiss. Dort wurden wir Neuankömmlinge untergebracht. Sie konnten dort
kostenlos wohnen, bis sie Arbeit gefunden hatten und in der Lage waren, eine
Wohnung zu mieten. Papa fand schon nach fünf Tagen Arbeit und Mutti wenige Tage
danach. Ich übernahm die Haushaltspflichten. Als erstes schickte Papa die
geborgten 35 $ an die „Hias“.. Über die Jahre haben wir ihnen noch manche
Spende gesandt, damit sie weiter vielen Menschen helfen sollten.
Ein weiterer
glücklicher Tag wurde der 17. März 1947. An diesem Tag wurden wir als Bürger
der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt.
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