Familienschicksale : Moritz Blumenthal und seine Söhne
1858, am 7. Dezember, wird Moritz Blumenthal geboren. Er
wird Schlachter in Rössing, wie schon sein Vater, sein Grossvater und sein
Onkel vor ihm. Am 26. Oktober 1892 heiratet er im Alter von 34 Jahren ein
Fräulein Sophie Wallhausen aus Lüthorst, und es wird eine großartige Hochzeit
gefeiert. Die mit riesigem Aufwand gedruckte
Hochzeits- zeitung ist noch erhalten.
Dem
Paar werden fünf Söhne geboren:
1893,
16.Oktober Gustav Blumenthal
1895,
02. März Karl Blumenthal
1897,
11. Oktober Hermann Blumenthal
1900,
23. Juni Robert Blumenthal
1901,
30. Dezember Willi Blumenthal.
1897 werden wieder erhebliche Geldmittel für Haus und Nebengebäude
aufgewendet. Die Wagenremise und der Stall werden erneuert, und der Taxwert des
Wohnhauses erhöht sich wieder um gut 1000 Mark auf 8387 Mark.
1907 erfolgt eine bedeutende Modernisierung der Schlachterei
und auch das Wohnhaus wird noch einmal verbessert.
Quelle: NHSA Sign:
Hann 174, Springe 162
Ein moderner Betrieb
Im Jahr 1907 bringt Moritz Blumenthal seine Schlachterei auf
den modernsten Stand. Da der Bau eines
Kühlkellers wegen der Lage des Hauses in der Masch mit ihrem hohen Grundwasserstand nicht möglich ist,
baut er oberirdisch einen Eisturm, der heute noch vorhanden ist. Ein
doppelwandiger, ca. 5 m hoher Turm, dessen 8o cm breite Zwischenwände zur
Isolierung mit Torf gefüllt sind, wird von der Seite durch eine oben
befindliche Luke im Winter mit Eis gefüllt und hält ihn über den ganzen Sommer
kühl. Das Dach und der daneben liegende Kühlraum werden ebenso ausgestattet.
Wenn das Eis im Winter auf dem Schloßteich dick genug war,
wurde es geschnitten und eingelagert. Im Winter galt Blumenthal als begehrter
Arbeitgeber, beschäftigte er doch zeitweilig bis zu 15 Personen in der
arbeitsarmen Zeit mit Eisschneiden. An der Sohle des Eisturms ist eine türgroße
Öffnung zum Kühlraum, in dem das Fleisch auch im heißesten Sommer hervorragend
gekühlt wurde. Es gab ja noch kein künstlich hergestelltes Stangeneis. Die Schlachterei Moritz Blumenthal war weit und
breit bekannt für ihr hervorragendes Fleisch. Wenn man ein besonders gutes
Stück Fleisch haben wollte, kaufte man es bei Blumenthal. Natürlich gab es dort
vorwiegend Rindfleisch und manchmal Hammelfleisch. Schweine wurden nicht
geschlachtet oder verkauft. Die Rinder suchte sich Blumenthal bei den Bauern
aus und war als hartnäckiger und harter Verhandlungspartner bekannt. Mit Pferd
und Wagen fuhr er über Land, sogar bis
Hannover. Sein Fleisch verkaufte er in den umliegenden Dörfern, wo man an
bestimmten Tagen schon auf ihn wartete.
Rituelles
Schlachten
Die linke Hälfte des Erdgeschosses wurde als Schlachterei
genutzt. Das heutige große Schaufenster gab es noch nicht. Fensterläden zur
Straßenseite schützten vor Sonneneinstrahlung.
Das Schlachten der Rinder erfolgte nach dem jüdischen
Ritualkodex. Dazu kam extra ein Schächter als Kultbeamter aus Pattensen oder
auch aus Hannover. Mit Pferd und Wagen wurde er vom Bahnhof Barnten abgeholt.
In einem besonderen Kasten, ähnlich wie
ein Geigenkasten, brachte er das Messer zum Schächten mit, das nicht die
geringste Scharte aufweisen durfte. Geschlachtet wurde in dem Raum, der einen
Eingang von der linken Hofseite aus hat. Von der Hofmauer aus schauten die
Dorfjungen manchmal bei der Zeremonie zu, die sie als sehr grausam empfanden.
Mit Ketten wurden die Tiere an den Füßen gefesselt, durch eine Winde zu Fall
gebracht und ohne Betäubung Halsschlagader, Speise- und Luftröhre durchtrennt,
um eine völlige Ausblutung zu erreichen.
Das Schächten wurde im NS-Deutschland, am 21.4.1933,
verboten. Durch Verord-nungen der Militärregierungen von 1946 und 1947 wurde es
wieder zugelassen.
Auch die jüdischen Beerdigungen erweckten das Interesse der
Dorfjugend, weil sie anders waren als
die hier üblichen. Besonders die Särge fielen ihnen auf. Sie hatten keinen
hochgewölbten Deckel und waren aus unbearbeitetem Holz.
Karl Blumenthal
und seine Brüder
In Rössing wußte man bisher nur von drei Brüdern, Karl,
Robert und Willi, die in den 1920er und 1930er Jahren voll in der
Dorfgemeinschaft integriert waren. Daß es noch zwei weitere Brüder Blumenthal
gab, Gustav (geb. 1893), und Hermann (geb. 1897) war bisher in Rössing unbekannt.
Von der Existenz dieser beiden Brüder erfuhr man erst fast 100 Jahre später
durch Kurt Blumenthal, den Enkel von Gustav, als er Im Jahre 2008 auf den
Spuren seiner Ahnen ihre Gräber in Rössing besuchen wollte. Er überließ mir ein
Exemplar der 2003 von seinem Vater Werner verfaßten Familienchronik, durch die
wir umfassende Informationen über die Schicksale der einzelnen
Familienmitglieder erhielten.
Gustav und Hermann Blumenthal haben Rössing schon jung
verlassen und wurden sehr erfolgreiche und wohlhabende Geschäftsleute in
Bochum. Das Startkapital stammte wohl vom Vater Moritz, denn sie wurden
Besitzer oder Teilhaber der Firma Gebr. Koppel
später Heymann & Co, eines großen Geschäfts-oder Kaufhauses der Textilbranche,
was ihnen einen recht luxuriösen Lebensstil ermöglichte mit Tennisspiel,
Reitstunden im Tattersall, Urlaubsreisen und einem Auto mit Chauffeur.
Dadurch, daß sie Rössing frühzeitig verließen und sehr
wohlhabend wurden, entgingen sie wahrscheinlich dem Schicksal ihrer drei
Brüder, denn ihnen gelang noch rechtzeitig die Ausreise in die USA.
Nach „Arisierung“ ihres Geschäftes und KZ-Aufenthalt gelang
Hermann Blumenthal 1940 die kostspielige „Auswanderung“ in die USA, von wo aus
er durch Stellung einer Bürgschaft ein Visum für seinen Bruder Gustav mit
Familie besorgen konnte und ihnen so die Flucht aus Nazi-Deutschland im August
1942 in letzter Minute ermöglichte.
.
Die andern drei Brüder wuchsen in Rössing heran und teilten
das Dorfleben bis ins Erwachsenenalter. Karl und Willi wurden Schlachter wie
ihre Vorfahren und arbeiteten im väterlichen Betrieb, während Robert, der an
einer Bechterewschen Wirbelsäulenverkrümmung litt , einen kaufmännischen Beruf
ergriff.
Der Erste
Weltkrieg
Als 1914 der erste Weltkrieg ausbrach, rief nicht nur der „Centralverein deutscher Staatsbürger
jüdischen Glaubens", sondern auch die „Zionistische Vereinigung für Deutschland" zur
Vaterlandsverteidigung auf, letztere mit den Worten:
"Wir rufen Euch auf, im Sinne des alten jüdischen
Pflichtgebots mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Vermögen, Euch dem
Dienste des Vaterlandes hinzugeben."
Die ganze Familie war deutsch-national eingestellt, und die
drei ältesten Blumenthal-Brüder Gustav, Hermann und Karl folgten dem Aufruf und
meldeten sich als Kriegsfreiwillige. Hermann wurde Unteroffizier und am 17.
Oktober 1917 wurde ihm
„von Sr. Majestät vom Kaiser und König das Eiserne
Kreuz II. Klasse verliehen“.
Alle drei Brüder hatte das Erlebte geprägt, aber sie hüteten
ihr deutsches Nationalbewusstsein. Hermann war stolz auf seine
Kriegs-Auszeichnung und bewahrte die Verleihungsurkunde sein Leben lang auf.
Die Blumenthals lebten in Rössing als alteingesessene
Bürger, nahmen am Dorfleben teil und traten nach außen hin recht bescheiden
auf. Auf dem Erinnerungsfoto an das Stiftungsfest der Freiwilligen Feuerwehr
von 1928 sind Karl und Willi Blumenthal
mit verewigt und bei den geselligen Zusammenkünften des im Jahre 1900
gegründeten „Klub Frohsinn" war
Willi Blumenthal ebenfalls mit von der Partie, wie ein Foto von 1932 zeigt
(siehe Bildband „Rössing, unser Dorf im Wandel"). Karl, Mitte der 20er
Jahre mit Henny Hartogsohn (geb. 1899) aus Emden verheiratet, hatte mit ihr zwei Kinder – Hanna, geb. am 6.
März 1928, und Hans-Jürgen, der am 7.
November 1931 geboren wurde.
Karl Blumenthal, einer der besten Sänger im Gesangverein
„Concordia“, wurde 1935 aus rassistischen Gründen ausgeschlossen. Karl Pahl,
der 1. Vorsitzende des Vereins, hatte mehrfach erfolglos zugunsten von Karl
Blumenthal interveniert. Man setzte ihn höheren Ortes so unter Druck, daß er
schließlich nachgeben mußte, weil er sonst selbst in größte Schwierigkeiten
gekommen wäre.
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