Sunday, June 24, 2012

200 Jahre jüdische Geschichte in Rössing (14)


Familienschicksale : Moritz Blumenthal und seine Söhne

1858, am 7. Dezember, wird Moritz Blumenthal geboren. Er wird Schlachter in Rössing, wie schon sein Vater, sein Grossvater und sein Onkel vor ihm. Am 26. Oktober 1892 heiratet er im Alter von 34 Jahren ein Fräulein Sophie Wallhausen aus Lüthorst, und es wird eine großartige Hochzeit gefeiert. Die mit riesigem Aufwand gedruckte  Hochzeits- zeitung ist noch erhalten.

Dem Paar werden fünf Söhne geboren:
1893, 16.Oktober      Gustav Blumenthal
1895, 02. März          Karl Blumenthal
1897, 11. Oktober     Hermann Blumenthal
1900, 23. Juni           Robert Blumenthal
1901, 30. Dezember Willi Blumenthal.

1897 werden wieder erhebliche Geldmittel für Haus und Nebengebäude aufgewendet. Die Wagenremise und der Stall werden erneuert, und der Taxwert des Wohnhauses erhöht sich wieder um gut 1000 Mark auf 8387 Mark.
1907 erfolgt eine bedeutende Modernisierung der Schlachterei und auch das Wohnhaus wird noch einmal verbessert.

Quelle: NHSA  Sign: Hann 174, Springe 162

Ein moderner Betrieb

Im Jahr 1907 bringt Moritz Blumenthal seine Schlachterei auf den modernsten Stand. Da der  Bau eines Kühlkellers wegen der Lage des Hauses in der Masch mit ihrem hohen Grundwasserstand nicht möglich ist, baut er oberirdisch einen Eisturm, der heute noch vorhanden ist. Ein doppelwandiger, ca. 5 m hoher Turm, dessen 8o cm breite Zwischenwände zur Isolierung mit Torf gefüllt sind, wird von der Seite durch eine oben befindliche Luke im Winter mit Eis gefüllt und hält ihn über den ganzen Sommer kühl. Das Dach und der daneben liegende Kühlraum werden ebenso ausgestattet.

Wenn das Eis im Winter auf dem Schloßteich dick genug war, wurde es geschnitten und eingelagert. Im Winter galt Blumenthal als begehrter Arbeitgeber, beschäftigte er doch zeitweilig bis zu 15 Personen in der arbeitsarmen Zeit mit Eisschneiden. An der Sohle des Eisturms ist eine türgroße Öffnung zum Kühlraum, in dem das Fleisch auch im heißesten Sommer hervorragend gekühlt wurde. Es gab ja noch kein künstlich hergestelltes Stangeneis. Die  Schlachterei Moritz Blumenthal war weit und breit bekannt für ihr hervorragendes Fleisch. Wenn man ein besonders gutes Stück Fleisch haben wollte, kaufte man es bei Blumenthal. Natürlich gab es dort vorwiegend Rindfleisch und manchmal Hammelfleisch. Schweine wurden nicht geschlachtet oder verkauft. Die Rinder suchte sich Blumenthal bei den Bauern aus und war als hartnäckiger und harter Verhandlungspartner bekannt. Mit Pferd und Wagen fuhr er  über Land, sogar bis Hannover. Sein Fleisch verkaufte er in den umliegenden Dörfern, wo man an bestimmten Tagen schon auf ihn wartete.

Rituelles Schlachten

Die linke Hälfte des Erdgeschosses wurde als Schlachterei genutzt. Das heutige große Schaufenster gab es noch nicht. Fensterläden zur Straßenseite schützten vor Sonneneinstrahlung.

Das Schlachten der Rinder erfolgte nach dem jüdischen Ritualkodex. Dazu kam extra ein Schächter als Kultbeamter aus Pattensen oder auch aus Hannover. Mit Pferd und Wagen wurde er vom Bahnhof Barnten abgeholt. In einem besonderen Kasten, ähnlich  wie ein Geigenkasten, brachte er das Messer zum Schächten mit, das nicht die geringste Scharte aufweisen durfte. Geschlachtet wurde in dem Raum, der einen Eingang von der linken Hofseite aus hat. Von der Hofmauer aus schauten die Dorfjungen manchmal bei der Zeremonie zu, die sie als sehr grausam empfanden. Mit Ketten wurden die Tiere an den Füßen gefesselt, durch eine Winde zu Fall gebracht und ohne Betäubung Halsschlagader, Speise- und Luftröhre durchtrennt, um eine völlige Ausblutung zu erreichen.
Das Schächten wurde im NS-Deutschland, am 21.4.1933, verboten. Durch Verord-nungen der Militärregierungen von 1946 und 1947 wurde es wieder zugelassen.

Auch die jüdischen Beerdigungen erweckten das Interesse der Dorfjugend, weil sie  anders waren als die hier üblichen. Besonders die Särge fielen ihnen auf. Sie hatten keinen hochgewölbten Deckel und waren aus unbearbeitetem Holz.

Karl Blumenthal und seine Brüder

In Rössing wußte man bisher nur von drei Brüdern, Karl, Robert und Willi, die in den 1920er und 1930er Jahren voll in der Dorfgemeinschaft integriert waren. Daß es noch zwei weitere Brüder Blumenthal gab, Gustav (geb. 1893), und Hermann (geb. 1897) war bisher in Rössing unbekannt. Von der Existenz dieser beiden Brüder erfuhr man erst fast 100 Jahre später durch Kurt Blumenthal, den Enkel von Gustav, als er Im Jahre 2008 auf den Spuren seiner Ahnen ihre Gräber in Rössing besuchen wollte. Er überließ mir ein Exemplar der 2003 von seinem Vater Werner verfaßten Familienchronik, durch die wir umfassende Informationen über die Schicksale der einzelnen Familienmitglieder erhielten.

Gustav und Hermann Blumenthal haben Rössing schon jung verlassen und wurden sehr erfolgreiche und wohlhabende Geschäftsleute in Bochum. Das Startkapital stammte wohl vom Vater Moritz, denn sie wurden Besitzer oder Teilhaber der Firma Gebr. Koppel  später Heymann & Co, eines großen Geschäfts-oder Kaufhauses der Textilbranche, was ihnen einen recht luxuriösen Lebensstil ermöglichte mit Tennisspiel, Reitstunden im Tattersall, Urlaubsreisen und einem Auto mit Chauffeur.
Dadurch, daß sie Rössing frühzeitig verließen und sehr wohlhabend wurden, entgingen sie wahrscheinlich dem Schicksal ihrer drei Brüder, denn ihnen gelang noch rechtzeitig die Ausreise in die USA.
Nach „Arisierung“ ihres Geschäftes und KZ-Aufenthalt gelang Hermann Blumenthal 1940 die kostspielige „Auswanderung“ in die USA, von wo aus er durch Stellung einer Bürgschaft ein Visum für seinen Bruder Gustav mit Familie besorgen konnte und ihnen so die Flucht aus Nazi-Deutschland im August 1942 in letzter Minute ermöglichte.
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Die andern drei Brüder wuchsen in Rössing heran und teilten das Dorfleben bis ins Erwachsenenalter. Karl und Willi wurden Schlachter wie ihre Vorfahren und arbeiteten im väterlichen Betrieb, während Robert, der an einer Bechterewschen Wirbelsäulenverkrümmung litt , einen kaufmännischen Beruf ergriff.

Der Erste Weltkrieg

Als 1914 der erste Weltkrieg ausbrach, rief nicht nur der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", sondern auch die „Zionistische Vereinigung für Deutschland" zur Vaterlandsverteidigung auf, letztere mit den Worten:

"Wir rufen Euch auf, im Sinne des alten jüdischen Pflichtgebots mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Vermögen, Euch dem Dienste des Vaterlandes hinzugeben."

Die ganze Familie war deutsch-national eingestellt, und die drei ältesten Blumenthal-Brüder Gustav, Hermann und Karl folgten dem Aufruf und meldeten sich als Kriegsfreiwillige. Hermann wurde Unteroffizier und am 17. Oktober 1917 wurde ihm

      „von Sr. Majestät vom Kaiser und König das Eiserne Kreuz II. Klasse verliehen“.

Alle drei Brüder hatte das Erlebte geprägt, aber sie hüteten ihr deutsches Nationalbewusstsein. Hermann war stolz auf seine Kriegs-Auszeichnung und bewahrte die Verleihungsurkunde sein Leben lang auf.

Die Blumenthals lebten in Rössing als alteingesessene Bürger, nahmen am Dorfleben teil und traten nach außen hin recht bescheiden auf. Auf dem Erinnerungsfoto an das Stiftungsfest der Freiwilligen Feuerwehr von 1928  sind Karl und Willi Blumenthal mit verewigt und bei den geselligen Zusammenkünften des im Jahre 1900 gegründeten  „Klub Frohsinn" war Willi Blumenthal ebenfalls mit von der Partie, wie ein Foto von 1932 zeigt (siehe Bildband „Rössing, unser Dorf im Wandel"). Karl, Mitte der 20er Jahre mit Henny Hartogsohn (geb. 1899) aus Emden verheiratet,  hatte mit ihr zwei Kinder – Hanna, geb. am 6. März 1928,  und Hans-Jürgen, der am 7. November 1931 geboren wurde.

Karl Blumenthal, einer der besten Sänger im Gesangverein „Concordia“, wurde 1935 aus rassistischen Gründen ausgeschlossen. Karl Pahl, der 1. Vorsitzende des Vereins, hatte mehrfach erfolglos zugunsten von Karl Blumenthal interveniert. Man setzte ihn höheren Ortes so unter Druck, daß er schließlich nachgeben mußte, weil er sonst selbst in größte Schwierigkeiten gekommen wäre.

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