Sunday, June 24, 2012

200 Jahre jüdische Geschichte in Rössing (18)


Familienschicksale: Der letzte Teil der Tragödie beginnt 

Eine Reihe von „streng vertraulichen“ Schriftstücken der Gestapo (Geheimen Staatspolizei) an den Landrat in Springe, die sich damit befassten, wie  mit den Juden verfahren werden sollte, wurden nur den obersten Spitzen der Behörden zugestellt. Die untergeordneten Instanzen bekamen immer nur Teilaufträge, so daß die Wenigsten den  schaurigen Weg, den die Juden gehen mußten, vollständig übersehen konnten.

Am 25. März 1942  werden der Familie Blumenthal vier Verfügungen zugestellt, für jedes Familienmitglied eine. Sie hätten sich drei Tage später, am 28. März 1942, zum Abtransport mit einem LKW bereitzuhalten. Es handelt sich um Karl (47), seine Frau (43), Tochter Hanna (14) und Sohn Hans-Jürgen (11).

            Jeder zu evakuierende Jude muß mitbringen
            1.) 1 Koffer oder Rucksack mit Ausrüstungsstücken
                        (kein sperrendes Gut) bis 50 kg
            2.) Vollständige Bekleidung (ordentliches Schuhwerk)
                        Bettzeug mit Decken (keine Matratzen)
            3.) Transportverpflegung für etwa 3 Tage,
                        Essgeschirr (Teller oder Topf mit Löffel)

Offiziell hieß es, es ginge zum Arbeitseinsatz nach Polen. Ein LKW mit Anhänger sammelte die Juden aus dem Landkreis Springe auf vorgeschriebener Route am 28. März 1942 im Laufe des Vormittags ein. Die zweiköpfige Begleitmannschaft musste von der Gendarmerie gestellt werden, nicht von einer uniformierten NS-Organisation. Der Abtransport wäre sonst wohl weniger problemlos verlaufen. Der Transport ging zunächst zur Israelitischen Gartenbauschule nach Hannover-Ahlem. Dort war ein Sammellager eingerichtet,  und am 31.März 1942, also drei Tage später, ging ein Transportzug vom Bahnhof Fischerhof nach Trawniki bei Lublin ab.

Die nüchterne Sprache der aufgefundenen Aktenstücke ist erschreckend, wenn man weiß, daß es sich um eine Reise ohne Wiederkehr handelte.

Das vierseitige „vertrauliche“ Schreiben der Gestapo vom 19. März 1942 an den Landrat betr. der „Abwanderung" der Juden nach Trawniki bei Lublin in Polen, der die Einzelheiten der Abschiebung regelt, ist im Original erhalten. Da die Originalschriftstücke auf sehr schlechtem, vergilbtem Kriegspapier geschrieben  sind, werden hier nur einige Auszüge zitiert:
Seite 1
Der Transportzug D a 6 (sogenannter Koppelzug) wird fahrplanmäßig
am 31.März 1942 um 12,12 Uhr in Gelsenkirchen eingesetzt und trifft mit 400 Juden der Staatspolizeileitstelle Münster um 18,15 Uhr in Hannover, Bahnhof Fischerhof, ein. Hier erfolgt die Zuladung der für Hannover (bzw. Hildesheim) abzuschiebenden 500 Juden und die Einrangierung der benötigten Güterwagen und des B-Wagens für das Begleitkommando der Schutzpolizei. Um 18,36 Uhr fährt der Transportzug nach Braunschweig weiter und trifft dort um 20,05 Uhr ein. Die Staatspolizeileitstelle Braunschweig ladet die von ihr vorgesehen Juden (116) und das zugehörige Gepäck zu, so daß die endgültige Weiterfahrt des D a 6-Transportzuges nach Trawniki bei Lublin um 20.16 Uhr erfolgen kann.

Die Auswahl der von der Maßnahme betroffenen Juden für die Regierungsbezirke Hannover und Hildesheim trifft die Staatspolizeileitstelle Hannover.

Nicht abgeschoben werden zunächst:
1.    In deutsch-jüdischer Mischehe lebende Juden
2.    Juden ausländischer einschließlich sowjetrussischer Staatsangehörigkeit-----
3.    In geschlossenen kriegswichtigen Arbeitseinsatz befindliche Juden------

Seite 2 / 3
Ehetrennung, sowie Trennung von Kindern bis zu 14 Jahren von den Eltern ist zu vermeiden.

Jeder abzuschiebende Jude hat sein Bargeld, seine Wertpapiere, Sparkassenbücher, sonstige Wertgegenstände, wie Schmucksachen, Ringe, Halsketten, Armbänder usw. bei seiner Festnahme bei sich zu führen. Alle diese Gegenstände werden ihm bei der Durchsuchung der Koffer und der Leibesvisitation im Sammellager Ahlem abgenommen. Keinesfalls dürfen Juden Bargeld oder Wertgegenstände auf dem Transport mitnehmen. Nur Eheringe dürfen den Juden belassen werden.

Für die aus dem Regierungsbezirk Hildesheim abzuschiebenden Juden werden vorstehend bezeichnete Sachen von der Außenstelle Hildesheim bereits in eigener Zuständigkeit abgenommen.
Alles bewegliche und unbewegliche Vermögen der abzuschiebenden Juden wird mit Rückwirkung vom 1.3.1942 staatspolizeilich beschlagnahmt und eingezogen. Die Verwertung des eingezogenen Judenvermögens wird der Oberfinanz-präsident durchführen.
Über die Kosten des LKW-Transportes wird der Gestapo vom Landkreis eine Rechnung zugestellt.

Der Befehl für diesen LKW-Transport wurde nicht schriftlich erteilt, sondern bezog sich auf eine mündliche Anweisung vom 10. Januar 1942, die die Gestapo dem Landrat übermittelt hatte.

Quelle: NHSA Hann 174 Springe 162

In der Einwohnerliste der Juden in Rössing wurden die Namen dann einfach durchgestrichen. Unter “Bemerkungen“ steht bei jedem Einzelnen:     „evakuiert am 28. März.1942“

Der Gendarmerieeinzelposten Rössing vermeldet ganz lapidar dem Landrat am 29. März.1942 Vollzug mit dem Bericht, daß die Familie Blumenthal in Rössing am 28. März.1942 nach dem Osten abtransportiert worden ist.

Quelle: NHSA  Hann 174 Nr. 162

Nachtrag
Bei ihrem Abtransport ahnte Familie Blumenthal noch nicht, was ihr bevorstand. Sie glaubten an einen Arbeitseinsatz in Polen und daß man sie dort in Polen zusammen ansiedeln würde. Frau Blumenthal hatte ihre Nähmaschine in die Gepäckaufbewahrung zum Bahnhof Barnten gebracht, eine Nachbarin sollte sie ihr nachschicken, wenn sie ihre neue Adresse hätte, damit sie sich durch Nähen etwas dazuverdienen könnte. Was wirklich geschah, hätte sich niemand vorstellen können. 

Karl Algermissen aus Rössing hat als Soldat in Polen Karl Blumenthal noch einmal in der Nähe von Warschau bei Gleisarbeiten in einem erbärmlichen Zustand getroffen: „Karl, was machst Du denn hier?“ fragte er ihn ganz entsetzt. „Geh weiter, geh weiter“ sagte dieser nur. Am nächsten Tag wollte Algermissen ihm etwas zu Essen bringen, aber er hat Karl Blumenthal nicht wieder getroffen. Das war das letzte Lebenszeichen von der Familie Blumenthal. Wie sie alle gestorben sind, wissen wir nicht.

Der Hausrat der Familie Blumenthal wurde auf dem Hof ihres Hauses versteigert und der Erlös dem Finanzamt zugeführt.


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