Sunday, June 24, 2012

200 Jahre jüdische Geschichte in Rössing (16)


Familienschicksale: Terror gegen Familie Blumenthal

Die Veränderung des Denkens gegen Juden machte auch vor dem Dorf Rössing nicht halt, und schon vor Hitlers „Machtergreifung“ wuchs die Angst in der Familie. Sofort nach dem 30. Januar 1933 setzten die staatspolitischen Maßnahmen ein. Am 1. April 1933 verkündete Julius Streicher den organisierten Judenboykott. Der Titel auf der ersten Seite des „Stürmers“, dem wüsten Hetzblatt der SA, lautete:

Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter

Und so prangte es an allen Litfasssäulen.Das blieb , auch in Rössing, nicht ohne Wirkung. Blumenthals Schlachterei ging zurück. Am 9. November 1938, als die Synagogen brannten und in einer organisierten Aktion die jüdischen Geschäfte und Wohnungen demoliert und geplündert wurden, wurden auch Blumenthals ein Opfer der Hetze. Augenzeugen berichteten, dass ein ortsfremder Autofahrer aus Richtung Nordstemmen kam, vor ihrem Haus anhielt und mit der Anlasserkurbel die geschlossenen hölzernen Fensterläden und die Scheiben zerschlug. Ein paar Jungen, die das mit angesehen hatten, fanden das aufregend und schmissen noch ein paar Steine hinterher, während die Familie Blumenthal total verängstigt auf ihren Betten im Schlafzimmer saß. 

Schon seit 1936 durften jüdische Kinder nicht mehr am Schulsportfest teilnehmen, und ab 1937 wurde ihnen der Besuch der allgemeinen Lehranstalten ganz verboten. Von den beiden Kindern Hanna, Jahrgang 1928, und Hans-Jürgen Blumenthal, Jahrgang 1931, konnte Hanna noch drei Jahre die Rössinger Schule besuchen. Die jüdische Kultusgemeinde in Hannover versuchte durch kulturelle Maßnahmen die weitere Schulbildung der Kinder zu übernehmen und Hanna wurde am 12. April 1937 nach Hannover abgemeldet.

Als sich nach dem 9. November 1938 niemand mehr getraute bei Blumenthals zu kaufen, mußten sie die Schlachterei schließen. Damit löste sich auch der geschlossene Familienverband der Blumenthals auf. Die Oma war gestorben, Hanna war in Hannover, Karl Blumenthal fand eine Stelle als Arbeiter beim Betonwerk R. Grasdorf in Hannover Wülfel, und die Familie lebte still und zurückgezogen und so unauffällig wie möglich im Dorf.

Druck und Diskriminierung

1935 waren den Juden ihre Staatsbürgerrechte aberkannt worden. Punkt 4 in Hitlers Parteiprogramm lautete:

Volksgenosse kann nur sein, wer arischen Blutes ist,
also kann kein Jude Volksgenosse sein.

Damit waren die Juden rechtlos wie im Mittelalter und unbegrenzt besteuerbar. Nach der Reichskristallnacht am 9. November 1938 wurden sie mit einer Sondersteuer belegt als Strafe dafür, wie es hieß, daß der Jude Herschel Grynspan den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath in Paris erschossen hatte. Außerdem wurde die Kennzeichnung von jüdischen Pässen angeordnet. Sie wurden auf der Aussenseite mit einem 3 cm großen J versehen und die Passinhaber damit für alle sichtbar als Juden gekennzeichnet.

Viele Juden bemühten sich um Auswanderung, dabei wurden Teile ihres Vermögens als Sonderabgabe einbehalten.
Diese betrug bei Vermögen
            bis       1.000 RM      nichts
            1.000  5.000 RM      0,5 %
            5.000  10.000.RM    1,0 %

Bei einem Vermögen von 800 000 RM bis 1 Mio RM wurde sie als Reichsfluchtsteuer bis auf 10 % gesteigert.

Eine Reihe von Schriftstücken der Gestapo (Geheimen Staatspolizei) an den Landrat in Springe, die sich damit befassten, wie mit den Juden verfahren werden sollte, waren so brisant, daß sie mit dem Stempel „streng vertraulich“ versehen wurden.

Manchmal wurde die Ausreise der Juden von den Behörden gefördert, manchmal erschwert. Einmal weist der Reichsführer der SS die Gestapo an, daß die Landräte ab 1.Januar 1939 keine Dringlichkeitsbescheinigungen für Auslandsreisen jüdischer Mitbürger mehr ausstellen dürfen ; das hätte die Ausreise beschleunigt. So hat man mehr Zeit, sich die jüdischen Vermögen anzueignen.

Am 28.Februar 1939 wird die Förderung der Auswanderung minderbemittelter Juden angeordnet. Ohne Vermögen waren sie uninteressant und man wollte sie loswerden.
Aber auch das Ausland sperrte sich gegen die Aufnahme vor allem armer Juden. Verwandte mußten Bürgschaften übernehmen, andere hatten kaum eine Chance auszureisen.
Am 1.September 1941 erging der Befehl zum sichtbaren Tragen des etwa 10 cm großen gelben Judensterns und zur Führung israelitischer Vornamen für die Juden.


Zwangsverkauf des Hauses

Am 24. Juni 1939 ergingen vom Landrat in Springe an alle jüdischen Familien Verkaufsaufforderungen betreffend ihrer Immobilien. Karl Blumenthal hatte schon am 6. Juni 1939 sein Haus an Otto Altendorf verkauft , nicht freiwilllig, versteht sich. Bei diesen Zwangsverkäufen mußten die arischen Käufer die Verkaufssumme an den Staat bezahlen. Von der Verkaufssumme erhielten die Verkäufer nur einen Bruchteil, das meiste behielt der Staat ein. Daher kamen nach dem Krieg die Differenzen zwischen den Alteigentümern und den Käufern, die in der Regel alles noch einmal bezahlen mussten.

Blumenthals durften in ihrem Hause nur noch eine kleine Küche und zwei Zimmer bewohnen. Trotz ihres früheren guten Leumunds mied man die Familie.

Inzwischen war Krieg, die Lebensmittel wurden rationiert und die Juden bekamen erheblich kleinere Rationen auf ihre Lebensmittelkarten. Zwar gab es auch Beweise von nachbarschaftlicher Hilfe, etwa, wenn ihnen heimlich an der Hintertür beim Melken ihre Kanne mit Milch gefüllt wurde oder die andern Hausbewohner einen Topf mit Mittagessen hinstellten. Aber es durfte keiner sehen, alle hatten Angst, als „Volksverräter" zu gelten. Die Familie des Schäfers Schmieding stand Todesängste aus, weil dieser für die Blumenthals ein Schaf geschlachtet hatte.

Alle Tiere waren registriert und es wurde kontrolliert, ob die Anzahl der registrierten Tiere stimmte. Bei Opa Harke am Leinkamp ging es um Ziegen, als Karl Blumenthal eines Abends verstohlen an sein Fenster klopfte: „Kannst Du mir nicht noch einmal eine Ziege verkaufen?“ Aber diesmal ging es nicht. Der Enkel, der das damals mit ansah, berichtete es unter Tränen.

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