Familienschicksale:
Terror gegen Familie Blumenthal
Die Veränderung des Denkens gegen Juden machte auch vor dem
Dorf Rössing nicht halt, und schon vor Hitlers „Machtergreifung“ wuchs die
Angst in der Familie. Sofort nach dem 30. Januar 1933 setzten die
staatspolitischen Maßnahmen ein. Am 1. April 1933 verkündete Julius Streicher
den organisierten Judenboykott. Der Titel auf der ersten Seite des „Stürmers“,
dem wüsten Hetzblatt der SA, lautete:
Wer
beim Juden kauft, ist ein Volksverräter
Und so prangte es an allen Litfasssäulen.Das blieb , auch in
Rössing, nicht ohne Wirkung. Blumenthals Schlachterei ging zurück. Am 9.
November 1938, als die Synagogen brannten und in einer organisierten Aktion die
jüdischen Geschäfte und Wohnungen demoliert und geplündert wurden, wurden auch
Blumenthals ein Opfer der Hetze. Augenzeugen berichteten, dass ein ortsfremder
Autofahrer aus Richtung Nordstemmen kam, vor ihrem Haus anhielt und mit der
Anlasserkurbel die geschlossenen hölzernen Fensterläden und die Scheiben
zerschlug. Ein paar Jungen, die das mit angesehen hatten, fanden das aufregend
und schmissen noch ein paar Steine hinterher, während die Familie Blumenthal
total verängstigt auf ihren Betten im Schlafzimmer saß.
Schon seit 1936 durften jüdische Kinder nicht mehr am
Schulsportfest teilnehmen, und ab 1937 wurde ihnen der Besuch der allgemeinen
Lehranstalten ganz verboten. Von den beiden Kindern Hanna, Jahrgang 1928, und
Hans-Jürgen Blumenthal, Jahrgang 1931, konnte Hanna noch drei Jahre die
Rössinger Schule besuchen. Die jüdische Kultusgemeinde in Hannover versuchte
durch kulturelle Maßnahmen die weitere Schulbildung der Kinder zu übernehmen
und Hanna wurde am 12. April 1937 nach Hannover abgemeldet.
Als sich nach dem 9. November 1938 niemand mehr getraute bei
Blumenthals zu kaufen, mußten sie die Schlachterei schließen. Damit löste sich
auch der geschlossene Familienverband der Blumenthals auf. Die Oma war
gestorben, Hanna war in Hannover, Karl Blumenthal fand eine Stelle als Arbeiter
beim Betonwerk R. Grasdorf in Hannover Wülfel, und die Familie lebte still und
zurückgezogen und so unauffällig wie möglich im Dorf.
Druck und
Diskriminierung
1935 waren den Juden ihre Staatsbürgerrechte aberkannt
worden. Punkt 4 in Hitlers Parteiprogramm lautete:
Volksgenosse
kann nur sein, wer arischen Blutes ist,
also
kann kein Jude Volksgenosse sein.
Damit waren die Juden rechtlos wie im Mittelalter und
unbegrenzt besteuerbar. Nach der Reichskristallnacht am 9. November 1938 wurden
sie mit einer Sondersteuer belegt als Strafe dafür, wie es hieß, daß der Jude
Herschel Grynspan den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath in Paris
erschossen hatte. Außerdem wurde die Kennzeichnung von jüdischen Pässen
angeordnet. Sie wurden auf der Aussenseite mit einem 3 cm großen J versehen und
die Passinhaber damit für alle sichtbar als Juden gekennzeichnet.
Viele Juden bemühten sich um Auswanderung, dabei wurden
Teile ihres Vermögens als Sonderabgabe einbehalten.
Diese betrug bei Vermögen
bis 1.000 RM nichts
1.000 5.000 RM 0,5
%
5.000 10.000.RM 1,0
%
Bei einem Vermögen von 800 000 RM bis 1 Mio RM wurde sie als
Reichsfluchtsteuer bis auf 10 % gesteigert.
Eine Reihe von Schriftstücken der Gestapo (Geheimen
Staatspolizei) an den Landrat in Springe, die sich damit befassten, wie mit den
Juden verfahren werden sollte, waren so brisant, daß sie mit dem Stempel
„streng vertraulich“ versehen wurden.
Manchmal wurde die Ausreise der Juden von den Behörden
gefördert, manchmal erschwert. Einmal weist der Reichsführer der SS die Gestapo
an, daß die Landräte ab 1.Januar 1939 keine Dringlichkeitsbescheinigungen für
Auslandsreisen jüdischer Mitbürger mehr ausstellen dürfen ; das hätte die
Ausreise beschleunigt. So hat man mehr Zeit, sich die jüdischen Vermögen
anzueignen.
Am 28.Februar 1939 wird die Förderung der Auswanderung
minderbemittelter Juden angeordnet. Ohne Vermögen waren sie uninteressant und
man wollte sie loswerden.
Aber auch das Ausland sperrte sich gegen die Aufnahme vor
allem armer Juden. Verwandte mußten Bürgschaften übernehmen, andere hatten kaum
eine Chance auszureisen.
Am 1.September 1941 erging der Befehl zum sichtbaren Tragen
des etwa 10 cm großen gelben Judensterns und zur Führung israelitischer
Vornamen für die Juden.
Zwangsverkauf des
Hauses
Am 24. Juni 1939 ergingen vom Landrat in Springe an alle
jüdischen Familien Verkaufsaufforderungen betreffend ihrer Immobilien. Karl
Blumenthal hatte schon am 6. Juni 1939 sein Haus an Otto Altendorf verkauft ,
nicht freiwilllig, versteht sich. Bei diesen Zwangsverkäufen mußten die
arischen Käufer die Verkaufssumme an den Staat bezahlen. Von der Verkaufssumme
erhielten die Verkäufer nur einen Bruchteil, das meiste behielt der Staat ein.
Daher kamen nach dem Krieg die Differenzen zwischen den Alteigentümern und den
Käufern, die in der Regel alles noch einmal bezahlen mussten.
Blumenthals durften in ihrem Hause nur noch eine kleine
Küche und zwei Zimmer bewohnen. Trotz ihres früheren guten Leumunds mied man
die Familie.
Inzwischen war Krieg, die Lebensmittel wurden rationiert und
die Juden bekamen erheblich kleinere Rationen auf ihre Lebensmittelkarten. Zwar
gab es auch Beweise von nachbarschaftlicher Hilfe, etwa, wenn ihnen heimlich an
der Hintertür beim Melken ihre Kanne mit Milch gefüllt wurde oder die andern
Hausbewohner einen Topf mit Mittagessen hinstellten. Aber es durfte keiner
sehen, alle hatten Angst, als „Volksverräter" zu gelten. Die Familie des
Schäfers Schmieding stand Todesängste aus, weil dieser für die Blumenthals ein Schaf
geschlachtet hatte.
Alle Tiere waren registriert und es wurde kontrolliert, ob
die Anzahl der registrierten Tiere stimmte. Bei Opa Harke am Leinkamp ging es
um Ziegen, als Karl Blumenthal eines Abends verstohlen an sein Fenster klopfte:
„Kannst Du mir nicht noch einmal eine Ziege verkaufen?“ Aber diesmal ging es
nicht. Der Enkel, der das damals mit ansah, berichtete es unter Tränen.
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