Familienschicksale: Ferien bei den Großeltern: Werner Blumenthal erzählt
Beim Verfassen seiner Familienchronik im Jahr 2003 berichtet Werner Blumenthal (geb.1923)
in der Rückschau, wie er die Schulferien in den 1920er und 1930er Jahren
zusammen mit seiner Schwester Lore bei seinen Großeltern Sophie und Moritz
Blumenthal und den Brüdern seines Vaters in Rössing erlebt hat.
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Das einfache und arbeitsreiche Leben auf dem Lande – etwa einen Kilometer vom
Haus entfernt bewirtschafteten sie zugleich einen Acker (11/4 Morgen)– hatte
sie geprägt und zu geachteten Mitgliedern der dörflichen Gemeinde gemacht.
Sie
hatten fünf Söhne, mein Vater Gustav war der älteste von ihnen. Danach kamen
Karl, Hermann, Robert und Willi. Schon die Wahl der Namen ihrer Kinder verweist
darauf, dass sie trotz ihres bewusst und strikt gelebten Judentums
uneingeschränkt und selbstverständlich Deutsche waren.
Die
Kneipe gegenüber ihrem Haus war für die männlichen Familienmitglieder ebenso
sozialer Treffpunkt wie für den Rest der Einwohner des Dorfes. –
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Oma Sophie hatte gewiss kein leichtes Leben. Familie, fünf Kinder, Haus und
Laden zu bewirtschaften, dazu noch
Garten und „Land“. Der koschere Haushalt verlangte zusätzliche Mühe durch die
gebotene strenge Trennung zwischen „fleischigen“ und „milchigen“ sowie
sonstigen Lebensmitteln und dem dazugehörigen Geschirr, Besteck usw.
---Freitagsabends
wurde auf feierliche Weise mit dem Abendessen in der guten Stube der Sabbat
eingeläutet. Oma zündete die beiden Kerzen an und segnete die „Challe“, den
selbstgebackenen geflochteten Mohnstuten, der zunächst unter einer geklöppelten
Zierdecke lag. Jeder bekam ein Stück und aß es mit Salz zur Feier des Tages.---
---Des
öfteren begleitete ich Onkel Karl zur Arbeit auf dem Stück Land, auf dem
vornehmlich Kartoffeln und diverse Gemüse für den Hausbedarf angebaut wurden.
Mit Freude und viel Anstrengung zog ich den kleinen Bollerwagen dorthin, ein
gutes Stück auf der Landstraße entlang. Damals bestand noch kaum die Gefahr,
von einem Auto angefahren zu werden. Für mich als Stadtkind war es fast eine
Offenbarung, eine frische Möhre aus dem Beet ziehen und sie essen zu können,
Salat zu schneiden, Kartoffeln auszubuddeln.---
Werner Blumenthal erinnert sich lebhaft an die ungeheizten
Schlafkammern im Winter, das dicke Federbett, auf dem sich bis zum Morgen durch
die Atemluft eine richtige dünne Eisschicht bildete - und an das eisig kalte
Plumpsklo. Aber besonders beeindruckt hat ihn offensichtlich der Besitz eines
eigenen Stück Landes, durfte doch bis Mitte des 19. Jahrhunderts kein Jude nach
dem Gesetz Acker- oder Gartenland besitzen.
Willi Blumenthal, der jüngere Bruder von Karl, war auch
Schlachter, arbeitete bei seinem Vater in der Metzgerei und belieferte mit
Pferd und Wagen Kunden in der näheren und weiteren Umgebung, wobei Werner ihn
begleiten durfte. Außerdem besaß er ein Motorrad und brauste gern mit ihm auf
dem Soziussitz durch die Gegend.
Moritz Blumenthal starb 193O, und Karl übernahm die Schlachterei,
während Moritz‘ Frau Sophie noch bis
1938 lebte. Diese beiden sind die letzten, die auf dem jüdischen Friedhof
beerdigt wurden.
Nach einer Liste der jüdischen Einwohner vom 1.10.1935 umfaßte der Haushalt noch folgende Personen:
Name
Vorname Beruf Geburtstag Geb.Ort Bemerkungen
1. Blumenthal Karl Schlachter
2. 3. 1895 Rössing
2. " Henny Ehefrau 22.11. 1899 Emden
3. "
Hanna Tochter
6 3. 1928 Rössing
4. " Hans-Jürgen Sohn
7.11. 1931 Rössing
5. " Sophie Witwe 18.
4. 1866 Lüthorst
6. " Willi Sohn
zu 5 30.12. 1901 Rössing verzogen
n..
7.Gaup Auguste Hausangest. 2. 3. 1910 Roßlau
a,d,Elbe
8 Blumenthal Robert Sohn zu 5 Kaufmann 23. 6. 1900 Rössing
"
Quelle: NHSA Hannover, Sign. Hann 174 Springe Nr. 162
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