Sunday, June 24, 2012

200 Jahre jüdische Geschichte in Rössing (21)


Der jüdische Friedhof

Über den Ursprung des jüdischen Friedhofs an der alten Hildesheimer Straße, am Kirschenbrink, ist nichts bekannt. Aber er ist mit Sicherheit schon über 200 Jahre alt. Die jüdischen Friedhöfe auf den Dörfern wurden immer weitab vom Dorfmittelpunkt angelegt, häufig mitten in der Feldmark. Der hiesige Friedhof lag damals auch weitab. Durch die Ausdehnung des Dorfes liegt er heute schon am Rande des bebauten Gebietes. Aktenkundig wurde der Friedhof am 10. Februar 1813.

Damals war der 56-jährige Adam Oppenheimer aus Gronau infolge eines Unglücksfalles beim Überschreiten der zugefrorenen und mit Schnee bedeckten Leine ertrunken. Bei Rössing war er gefunden und zu einem Hause im Eikenhof gebracht worden. Dort wurde er von zwei Gronauer Glaubensgenossen, dem Kaufmann Heine Dannenberg, 23 Jahre alt, und Isaac Meier, 20 Jahre alt, im Beisein des Rössinger Bürgermeisters Georg Opitz, (Rössing Nr. 22) identifiziert und dann auf dem Rössinger Judenfriedhof beigesetzt.

1992 forschte ein Dr. Arnold Oppenheimer aus London nach den Gräbern seiner Vorfahren auf dem Rössinger Judenfriedhof, zu denen auch der ertrunkene Adam Oppenheimer gehörte. Er teilte mit, dass viele seiner Gronauer Vorfahren auf dem Rössinger Friedhof beerdigt seien, weil Rössing ein Sammelfriedhof gewesen sei. Darüber waren aber hier bisher noch keine Unterlagen aufgefunden worden. Doch es wäre einleuchtend, weil der Rössinger Friedhof für die kleine Rössinger Synagogengemeinde allein sehr groß gewesen wäre. Dr. Oppenheimer konnte es gar nicht fassen, dass die alten Grabsteine seiner Familie nicht mehr erhalten sind, denn die Gräber der Juden hatten eine ewige Liegezeit und wurden normalerweise nicht eingeebnet.

Die Zeitspanne zwischen der Feststellung des Todes und der Bestattung war bei den Juden immer sehr kurz. Innerhalb von 24 Stunden mussten sie beerdigt werden, zumindest durften sie nicht mehr im Hause sein. Erst ca. 25 Jahre später nach diesem Todesfall, etwa 1840, wurde diese Frist auf 48 Stunden verlängert, um zu verhindern, dass Scheintote oder im Koma Liegende bei lebendigem Leibe begraben wurden.

Quelle:  NHSA  Hannover, Sign. Hann 74, Gronau 1660/1665


Schliessung der jüdischen Friedhöfe


Am 31. Juli 1938 beantwortete die Gemeinde Rössing eine Anfrage der NS-Behörden, den jüdischen Friedhof betreffend:
           
„Der jüdische Friedhof ist 4,37 ar groß, Eigentümer ist die jüdische Gemeinde in Rössing. Die letzte Beerdigung war hier am 5. Juni 1938. Es sind noch etwa 25 freie Begräbnisplätze vorhanden. Zur Zeit wohnt noch eine jüdische Familie Blumenthal mit vier Personen in Rössing.“

Karl Blumenthal hatte sich schon mit Wilhelm Freimann, dem Grenznachbarn des jüdischen Friedhofes, in Anbetracht der sich zuspitzenden Judenverfolgungen in Verbindung gesetzt. Wilhelm Freimann grenzte mit seinem Hausgrundstück Nr 132, heute als Nr. 45 der Kirchstraße zugeordnet, an den Judenfriedhof. Am 2. Juli 1940 wurde in Hannover zwischen dem Rechtsanwalt Dr. Hans Israel Ries als alleinigem Vorstand der jüdischen Kultusgemeinde, welche die Nachfolgerin der jüdischen Gemeinde in Rössing war, und Wilhelm Freimann ein Kaufvertrag mit folgendem Inhalt geschlossen:
           
Die Schlosser Wilhelm Freimann kauft den ganzen jüdischen Friedhof von
4 ar 37m² für 218,50 RM. Der Käufer verpflichtet sich, während einer Liegefrist
von 30 Jahren den mit Gräbern belegten Teil des Friedhofs unangetastet zu
lassen und während der Liegefrist eine Grabpflege in angemessener Weise
vorzunehmen, den Angehörigen während der Liegefrist Zutritt zum Friedhof zu
geben, auch wenn sie nicht mehr in Rössing ansässig sind, ggf.die Beerdigung der z. Zt. in Rössing ansässigen Juden auf dem Friedhof zu gestatten und unter allen Umständen die Pietät in erforderlicher Weise zu wahren.

Der Käufer hinterlegt den Kaufpreis beim Notar. Dieser übermittelt es an die Reichsvereinigung der Juden in Berlin, die zugunsten des (jüdischen) Gemeindevermögensfonds Rössing überweist.

Wilhelm Freimann ist Arier im Sinne des Gesetzes.

Unterschrift                           Unterschrift

Offenbar hatte man die Liegefristen für die jüdischen Gräber schon auf 30 Jahre beschränkt.

Bei dieser Art Verträge war folgendes üblich:
Als am 6. September 1940 das Synagogengrundstück in Eldagsen verkauft wurde, wurde der Vertrag ebenfalls vor Dr. Ries in Hannover abgeschlossen. Als sich die Synagogengmeinde über den geringen Verkaufspreis von 2.000 RM beschwerte, wurde ihr mitgeteilt, daß die Synagogengemeinde als Verkäuferin sowieso nur 500 RM davon bekäme, 1.500 RM gingen an das Reich als Ausgleichszahlung. Außerdem muß der Käufer noch 200 RM an den Makler bezahlen. So ähnlich wird es auch beim Verkauf des Rössinger Friedhofs zugegangen sein.

Familie Freimann räumte den Friedhof auf und entfernte die umgefallenen und zerbrochenen Grabsteine. Im übrigen hielt sie ihn die ganzen Jahre in Ordnung, bis sie ihn nach dem Krieg entschädigungslos wieder an die jüdische Gemeinde in Hannover (Haeckelstraße 13) übereignen mußte, so war das Gesetz. Bis 1979 pflegte Familie Hachmeister-Freimann, nun gegen ein geringes Entgelt, den Friedhof weiter.
Danach wurde eine Gärtnerei mit der Pflege beauftragt, die mehrmals im Jahr den Rasen mäht. Die Gräber sind mit Efeu bepflanzt, der auch geschnitten wird, und die Grabsteine wurden gereinigt.
Der Friedhof wurde neu eingezäunt, er erhielt verschließbare Pforten, und ein holzgeschnitztes Schild „Judenfriedhof“ macht auf den etwas versteckten Standort. aufmerksam.
.
Quellen: NHSA Hannover, Sign: Hann 174, Springe Nr. 163 und Nr. 167
                                  

Sechs alte Gräber und Grabsteine stehen noch auf dem Friedhof. Vier davon sind aus schon sehr verwittertem Sandstein. Neben den Namen und Daten auf der Vorderseite tragen sie auf der Rückseite umfangreiche hebräische Inschriften. 

Lewi Blumenthal                       Meier Blumenthal
geb. 1813, gest. 1881                geb. 1819, gest. ---
Sie waren die beiden Söhne des ersten Blumenthal Israel Lewi I in Rössing

            Line Blumenthal                                        Johanne Blumenthal
geb. 1819, gest 1884                                 geb. 1855, gest. 1926

die Frau von Meier Blumenthal               die Schwester von Moritz Blumenthal

Der Grabstein von Moritz Blumenthal ist aus schwarzem Marmor, der von seiner Frau dagegen schon recht klein und bescheiden.

            Hier ruht in Gott                                          Hier ruht
            mein unvergesslicher Gatte                     unsere liebe Mutter
            und meiner Kinder                                     Sophie Blumenthal
treusorgender Vater                                   geb. 18.4.1866
Moritz Blumenthal                                    gest. 4.5.1938
geb. 7.12.1858
gest. 17.11.1930

Von den fünf Söhnen von Moritz und Sophie Blumenthal fand keiner mit seiner Familie die letzte Ruhestätte auf dem Jüdischen Friedhof seines Heimatdorfes. Hermann und Gustav mit seiner Frau sind in den USA geblieben und dort beerdigt, ebenso Willi.

Robert wurde als erster am 15. Dezember 1941 mit Frau und Kindern nach Riga ins Ghetto transportiert, als Todesdatum wurde angegeben 26.März 1942. Karl und Familie wurden am 28. März nach Trawniki in Polen deportiert. Niemand weiß, wo sie geblieben sind und wie sie den Tod fanden.Und von Willis Frau und Kindern haben wir gar keine Daten. Nur der Name Blumenthal auf den sechs Grabsteinen erinnert noch an diese jüdische Familie, die fast 140 Jahre in Rössing gelebt hat.

Vier Stolpersteine

Die Gemeinde hat vor dem Hause der Blumenthals in der Maschstraße Nr. 22 zum Gedenken an ihre jüdischen Mitbürger am 19. November 2009 vier „Stolpersteine“ durch Gunter Demnig verlegen lassen: In einer sehr würdevollen Feier in Anwesenheit von mehreren Mitgliedern der Familie Blumenthal wurden vier Messingplatten mit den Namen der einzelnen Familienmitglieder ins Pflaster vor dem Hause eingelassen. Es sind keine wirklichen Stolpersteine, sie sollen nur auffordern einen Augenblick des  Gedenkens innezuhalten.

Trotz ihrer schrecklichen Schicksale sind die beiden Kinder von Gustav Blumenthal, Werner und Lore, wieder nach Deutschland zurückgekommen, um hier zu leben. Werner ist nach der Internierung in Kanada nach Herne gegangen, hat 1947 dort geheiratet und seine fünf Kinder leben alle in Deutschland – in Berlin, Hamburg und Herne. Von dort sind sie gekommen, um an der Feier teilzunehmen.

Lore ist nach dem Tode der Mutter - mit ihrem amerikanischen Mann und dessen Mutter - ihrem Bruder nach Herne gefolgt. 1999 , mit 73 Jahren, ist sie in Herne gestorben. 

200 Jahre jüdische Geschichte in Rössing (20)



Familienschicksale: Dramatische Flucht aus Nazi-Deutschland.

 

Lore Blumenthal berichtet 1995:


      Ich schreibe diesen Bericht hauptsächlich für meinen Bruder Werner. So oft ich auch versuchte ihm davon zu erzählen, was damals geschah, konnte ich mein Vorhaben nicht zu Ende bringen. Zugleich hoffe ich, mir hiermit das Geschehen von der Seele schreiben zu können.
                                               *          *          *
    In der Nacht des 8. November 1938, vielmehr in den frühen Morgenstunden des 9. November – es war etwa 2 Uhr – schellte es ohne Unterbrechung. Man hatte ein Streichholz neben den Klingelknopf geklemmt. Man versetzte uns zunächst in Schrecken, während man dabei war, eine andere Wohnung in der Nähe zu demolieren.

    Papa brachte Mutti, Opa und mich ganz leise auf den Dachboden und schloß uns dort in einen kleinen Raum ein. Er selbst und Hermann blieben unten in der Wohnung.

    Endlich hatten die Nazis ihr Werk weiter unten auf der Straße beendet und nun waren wir an der Reihe: Etwa 20 bis 25 SA-Leute jagten Papa und Hermann aus unserer Wohnung ins Treppenhaus. Dort mußten sie mit dem Gesicht zur Wand und hoch erhobenen Händen stehen bleiben. Die SA-Leute trugen alle hölzerne oder stählerne Knüppel bei sich (wahrscheinlich waren es die üblichen Gummiknüppel, Anm. d. Verfassers). Ob sie Papa oder Hermann geschlagen haben, weiß ich nicht. Keiner von beiden hätte uns davon erzählt.

    Oben auf dem Boden hörten Mutti und ich lautes Krachen und wir zitterten am ganzen Leibe. Opa war doch taub und so war es nicht leicht, ihn zu beruhigen, zumal wir uns ihm in der Dunkelheit nicht verständlich machen konnten. Nach den längsten zwei Stunden in unserm Leben wurde es wieder ruhig und Papa kam, um uns zu holen.

    Als wir in unsere Wohnung kamen, sahen wir, dass alles kaputtgeschlagen war. Überall lag zerbrochenes Glas. Papa sagte zu Mutti: Alles ist ruiniert. Muttis Antwort: Hauptsache, dass dir nichts passiert ist.!

    Jedes Bild war zerschnitten, jedes Einrichtungsteil zerschlagen. Silber, sowie Bettwäsche waren aus dem Fenster geworfen, Muttis Schmuck war gestohlen worden. Man konnte sich nirgends hinsetzen, da alles voller Glasscherben war. Wir versuchten ein wenig wegzuräumen, damit Mutti sich etwas hinlegen konnte. Inzwischen dämmerte es schon.

Ich schaute aus dem bleiverglasten, bunten Fenster in Opas Zimmer, wo ich selbst nicht gesehen werden konnte. Von dort aus sah ich, wie die Synagoge brannte.

    Gegen 8 oder 9 Uhr vormittags kam wieder eine Horde SA-Leute und verhafteten Papa und Hermann. Sie, wie alle andern männliche Juden in Bochum, brachte man auf die Polizeiwache.

    An diesem Tag hatten die Kinder schulfrei. Etliche folgten einem SA-Mann, der mal bei uns angestellt gewesen war, und der sie aufforderte, Steine in unsere Wohnung zu werfen und so noch das letzte heile Glas zu zertrümmern. Wir schlossen alle Türen und verbrachten die meiste Zeit des Tages im Flur, damit wir nicht selbst von Steinen getroffen wurden. Da wir die Nacht nicht in der Wohnung verbringen konnten, gingen wir eine Etage höher zu Lyons, die uns erlaubten, in ihrer Küche zu schlafen. Am nächsten Tag halfen Karl-Heinz und Frau Müller uns bei dem Versuch aufzuräumen.

   Wenige Tage nach ihrer Verhaftung wurden Papa und Hermann in Viehwagen in das KZ Sachsenhausen bei Berlin transportiert. Erstmals musste Mutti allein die Verantwortung für uns tragen.

   Zu dieser Zeit war Werner in Berlin, ging dort zur ORT-Schule, um eine Schlosserlehre zu machen. Er war gerade 15 Jahre alt – aber die Gestapo in Bochum suchte ihn. Kurz darauf ergab sich für 10 Jungen der ORT – Schule die Möglichkeit, mit einem Kindertransport nach England auszureisen. Werner sollte dabei sein. Mutti war bemüht, ihn sicher auf den Transport zu bringen. Als dann der Krieg ausbrach, wurden Werner und die andern Jugendlichen zu „feindlichen Ausländern“, später interniert und für einige Jahre in Kanada hinter Stacheldraht verbannt.

    In Bochum war Mutti immer wieder zur Gestapo gegangen  -   das fiel ihr verständlicherweise sehr schwer  -, um sich nach Papa und Hermann zu erkundigen.  Nach etwa sechs Wochen sagte man ihr, dass Papa entlassen würde, was dann auch passierte.

    Als Papa das KZ Sachsenhausen verlassen konnte, war sein erster Weg zu der Adresse, wo Werner in Berlin gewohnt hatte. Dort erfuhr er, dass dieser nach England emigriert war. Das traf ihn zunächst schwer, doch zugleich war er glücklich, seinen Sohn in Sicherheit zu wissen. Endlich kam Papa nach Hause. Seine Haare waren abrasiert, sein Anzug kaum wieder zu erkennen, so zerknittert war er. In Sachsenhausen hatte man alle Kleider in irgendeiner Desinfektionsmaschine so behandelt, dass sie nie wieder glatt werden konnten. Etwa zwei Wochen später kam auch Hermann.

-   Es begannen verstärkt die Mühen, eine Ausreisemöglichkeit aus Deutschland zu finden. Papa versuchte es mit jedem erdenkbaren Land: Argentinien, Chile, Brasilien  usw. Aber alle Staaten hatten ihre Grenzen geschlossen. In ihrer Verzweiflung beschloß die Familie, einen illegalen Ausweg zu finden. Man wollte nachts durch den Wald über die Grenze nach Belgien marschieren. Menschen, die uns „über die grüne Grenze“ brngen wollten, waren gefunden, bezahlt und alles war vorbereitet. In letzter Minute gab Papa einer bösen Ahnung nach und es wurde entschieden, die Sache abzublasen. Alle Leute, die in dieser Nacht den gleichen Weg wählten, wurden erfasst und erschossen.

Juden durften nur noch zwischen vier und fünf Uhr nachmittags einkaufen. Da alle Lebensmittel schon rationiert waren, gab es um diese Zeit kaum noch etwas zu kaufen. Einige Läden weigerten sich auch, uns zu bedienen. Nichtjüdische Freunde sorgten dafür, dass wir dennoch bekamen, was wir brauchten.

    1939 wurde ich mit einem Kindertransport nach Holland geschickt. Es war für mich eine schreckliche Zeit. Ich hatte furchtbares Heimweh.
    Kurz nach meiner Abreise nach Holland beschlagnahmte die Gestapo unsere Wohnung. Die SS brauchte sie. Zu unserm Glück hatten wir so gute Freunde wie Lewkonjas, die Mutti, Papa und Hermann bei sich aufnahmen. Opa hatte die Familie bereits in ein Altersheim eingekauft, in der Hoffnung, dass er dort seinen Lebensabend unter seinesgleichen verbringen könnte. Er kam dennoch nach Theresienstadt und kam dort um.

Papa war damit beschäftigt, vielen jüdischen Familien in Bochum bei dem vielen Papierkram zu helfen, der zur Emigration anfiel. Die Hapag, ein Reisebüro in Essen, hatte ihn angestellt; so konnte er den Auswanderern bei der Beschaffung ihrer Passagen behilflich zu sein.

Endlich konnte Papa Visa für Kuba bekommen. Die Gestapo liess mich grosszügig aus Holland zurückkommen -  für drei Tage! - ,um dann mit der Familie nach Kuba auszureisen. Hermann holte mich an der Grenze ab. Als wir zu Hause ankamen, machte uns Mutti die Türe auf. Sie war weiss wie ein Gespenst. Gerade hatten sie die Nachricht erhalten, dass auch Kuba seine Grenzen geschlossen hatte.

    Was mich betraf: Ich war glücklich, wieder bei der Familie sein zu können. Da die Gestapo wußte, dass wir verzweifelt versuchten auszuwandern, machte man uns keine zusätzlichen Schwierigkeiten. Zu dieser Zeit mußte jeder jüdische Mann den Namen Israel, jede Frau den Namen Sara annehmen.

    Eines Tages wurde allen polnischen Juden befohlen, binnen zwei Stunden zur Deportation auf dem Bahnhof zu erscheinen. Sie durften jeweils nur einen Koffer mitnehmen. Mutti, Papa und Hermann sowie auch Lewkonjas stellten Tische auf dem Bahnsteig auf; Mutti, und Grete Lewkonja schmierten Brote für die Betroffenen, Papa und die andern halfen ihnen bei ihrem Gepäck. In ihrer Aufregung und der Eile hatten sie die unwichtigsten Dinge eingepackt. Papa sorgte dafür, dass möglichst jeder eine Decke und warme Kleidung dabei hatte anstelle unnützer Dinge.

    An diesem Abend ließ Papa jeden von uns einen Koffer packen – nur warme und feste Kleidung. Diese Koffer sollten unter den Betten und immer bereit bleiben.

    Damals gab es fast nächtlich Bombenangriffe und wir verbrachten die meiste Zeit im Luftschutzkeller. Wir gingen angezogen ins Bett, da wir sonst zum Anziehen keine Zeit haben würden. Manchmal stand ich im Dunkeln mit Papa am Fenster und wir beobachteten Luftkämpfe zwischen deutschen und britischen Fliegern.

    Nun suchte Papa nach Wegen, in die USA zu kommen. Da wir dort keine Verwandten hatten, brauchten wir dazu erhebliche Bürgschaften. Unser guter Freund Felix Röttgen, der bereits in Amerika war, schlug vor, dass Hermann erst allein kommen solle. Es wäre leichter, eine Bürgschaft für eine Person zu bekommen und würde für uns einfacher, da wir dann ja einen Verwandten dort hätten.

   Hermann fuhr schließlich allein, mit schwerem Herzen. Seit vielen Jahren trennte er sich erstmals von uns, seiner Familie. Als er erst einmal dort war, gelang es ihm mit Felix, ausreichende Bürgschaften für uns zu bekommen.

Als schliesslich unsere Quotennummer beim amerikanischen Konsulat an die Reihe kam forderte man uns auf, zu einem bestimmten Zeitpunkt dort zu erscheinen. Wir sollten einen Beweis vorlegen, daß wir im Besitz einer Überfahrtsbuchung waren. Was Papa uns erst viel später erzählte: Er hatte eine Scheinbuchung gemacht, die aber die Unterschrift des Hapag-Managers trug. In seinem Vertrauen zu Papa  hatte er die Papiere unterschrieben ohne zu wissen, dass sie falsch waren. Während der ganzen Zeit hatte Papa auch Geld an die Hapag in Madrid für uns überwiesen, um damit eines Tages eine echte Passage nach Amerika buchen zu können.

    Schließlich fuhren wir nach Stuttgart zum amerikanischen Konsulat. Unsere Fingerabdrücke wurden registriert und wir mussten zu einer ärztlichen Untersuchung. Vor lauter Angst war ich leichenblass, worauf Mutti mich ständig in die Wangen kniff, damit ich gesunder aussehe. Sie selbst half sich mit etwas mehr Rouge.

   Wir erhielten unsere Visa zur Einreise in die USA am 27. Mai 1941. Onkel Pitz brachte uns zum Flughafen. Es war schwer, Abschied zu nehmen. Wir wussten aber, dass Pitzens Nummer bald an die Reihe kommen und er uns nachfolgen würde. Als es sich von Papa verabschiede flüsterte er ihm zu: Gestern Abend hat das amerikanische Konsulat seine Pforten geschlossen. Das hiess, : Es gab keine Visa mehr für die USA. Da Papa ja wusste, wie sehr Mutti an ihrem Bruder hing, hat er ihr diese Nachricht erst einmal verschwiegen.

    Wir durften jeder 10 US-$ und nur einen Koffer mitnehmen. Mutti und ich hatten darum so viele Sachen angezogen, dass ich kaum gehen, geschweige denn atmen konnte.

    Nun waren wir endlich in der Maschine. Erste Landung: Münschen. Alle Passagiere mußten aussteigen und plötzlich waren wir drei ausgesondert, um von Kopf bis Fuss durchsucht zu werden. Mit all den Kleidungsstücken am Leib brauchte ich verständlicherweise sehr lange, um mich auszuziehen. Endlich durften wir wieder an Bord. Beim Abflug sagte Papa:“ Atmet tief durch, wir sind raus. Die nächste Landung ist in Lyon.“ Als wir dort landeten, kam uns als erstes ein SS-Mann vor die Augen. Zum Glück wurden wir nicht belästigt.

    Es ging weiter nach Madrid. Mir war die ganze Zeit über schlecht – kein Wunder, da ich vor lauter Kleidung kaum atmen konnte. In Madrid waren es fast 40° C, es war Juni. Ich entledigte mich darum erst einmal aller Anziehsachen bis auf ein Kleid.

   Papa hatte in Madrid für ein Hotelzimmer vorgesorgt, wiederum durch die Hapag, wir wussten also, wohin. In diesem Hotel wohnten auch zahlreiche andere Flüchtlinge. Am nächsten Tag bemühte sich Papa bei der Hapag um eine Passage in die USA.

    Nach einigen Wochen war endlich ein Schiff gefunden, das Platz für uns hatte. Es würde aber ab Lissabon fahren. Ich glaube, sein Name war „Balboa“. Nun ging es wieder Tag für Tag zur Jagd auf ein Visum ins portugiesische Konsulat. Und von Woche zu Woche verschob sich der Abfahrtstermin des Schiffes. Schliesslich sollte es übermorgen um 5.30 Uhr nachmittags ab Lissabon losgehen.

   Am nächsten Tag erhielten wir endlich unsere Visa für Portugal sowie einen Flug, der mittags um eins aus Madrid nach Lissabon starten sollte. Damit konnten wir gerade noch rechtzeitig das Schiff erreichen. Nun – wir kamen in ein kräftiges Gewitter. Der Pilot bemühte sich, dem Unwetter auszuweichen, hatte dann aber nicht mehr genug Treibstoff!. Kannst du dir Mutti vorstellen im Flugzeug bei einem Gewitter?!

    Wir mussten Notlandung in Casanez machen.  Dort gab es nur eine kleine Landebahn, nur einen Krug voll Wasser, aber kein Benzin. Das musste erst aus Madrid besorgt werden. Man brachte uns auf Kosten der Fluggesellschaft in einem Hotel unter. Die Räume waren aber voller Ungeziefer und wir blieben die ganze Nacht auf. Natürlich hatte inzwischen unser Schiff den Hafen ohne uns verlassen. Am nächsten Tag kam das Benzin und wie konnten weiterfliegen.

In Lissabon brachte Papa Mutti und mich wieder in ein Hotel und ging sofort zur „Hias“, um Hilfe zu bekommen. Als erstes holte man uns aus dem offenbar teuren Hotel heraus und brachte uns bei einer jüdischen Familie in Lissabon unter.

    Die „Hias“ ist eine jüdische Hilfsorganisation, die nicht nur jüdischen Menschen zur Verfügung steht sondern allen, die Hilfe brauchen. Jeden Tag ging Papa dort hin, um eine andere Passage aufzutreiben. Schliesslich sagte man ihm, dass schon morgen ein amerikanisches Schiff führe, dass aber nur eine Kabine zur Verfügung stehe. Wir hätten uns inzwischen schon mit einer halben Kabine begnügt. An Geld fehlten uns allerdings 35 US $. Die „Hias“ half uns aus und so konnten wir am 15. August 1941 An Bord der „Excalibur“ gehen. Der nächste Tag war mein Geburtstag und den durfte ich nun auf amerikanischem (Schiffs-)Boden feiern.

    Zehn Tage lang war ich seekrank, bis wir schliesslich am 25. August 1941 unser Ziel erreichten. Am frühen Morgen, bei der Einfahrt in den Hafen von New York, standen wir alle an Deck, um mit ungläubigen Augen die Dame des Hafens zu begrüssen, die Freiheitsstatue. Damals habe ich zum ersten Mal im Leben Papa weinen sehen. Der Mann, der nicht nur für uns, sondern auch für so viele Menschen ein Fels in der Brandung gewesen war, konnte endlich wieder tief durchatmen. Es war ein glücklicher Tag.

    Hermann, Felix und Lisa Röttgen empfingen uns am Pier. Sie brachten uns zum Haus des Rabbiners Steven Weiss. Dort wurden wir Neuankömmlinge untergebracht. Sie konnten dort kostenlos wohnen, bis sie Arbeit gefunden hatten und in der Lage waren, eine Wohnung zu mieten. Papa fand schon nach fünf Tagen Arbeit und Mutti wenige Tage danach. Ich übernahm die Haushaltspflichten. Als erstes schickte Papa die geborgten 35 $ an die „Hias“.. Über die Jahre haben wir ihnen noch manche Spende gesandt, damit sie weiter vielen Menschen helfen sollten.

    Ein weiterer glücklicher Tag wurde der 17. März 1947. An diesem Tag wurden wir als Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. 

200 Jahre jüdische Geschichte in Rössing (19)


Die Schicksale der vier anderen Brüder

Robert Blumenthal

Robert Blumenthal, der vierte der fünf Brüder, hatte einen kaufmännischen Beruf und lebte einige Zeit in Wiesbaden. Mit seiner Frau Edith hat er zwei Kinder. Ab Juli 1934 wohnt er wieder in Rössing, am 8.6.1936 zieht die Familie nach Hannover, wohnt in der   Nordmannstrasse 11. Später lebt die Familie in der Josephstraße 2., in einem Haus, in dem  jüdischen Familien zusammengezogen werden. Am 15. Dezember 1941 wird die Familie mit dem ersten Transport, der in einem Vernichtungslager endete, nach Riga verbracht und kommt dort um.
Quelle: Erinnerungsblatt der Mahn- und Gedenkstätte Ahlem

Willi Blumenthal

Roberts ein Jahr jüngerer Bruder Willi hatte 1933   in eine Schlachterei in Horn (Lippe) eingeheiratet. Das Ehepaar hat zwei Kinder. Die Kinder und die Mutter sind vom Terrorregime des NS  ermordet worden. Willi Blumenthal hatte ein besonderes Schicksal.

Er war als KZ-Häftling in Frankreich zum Bau von Befestigungsanlagen eingesetzt worden und sollte, als er nicht mehr arbeitsfähig war, zusammen mit seinen Leidensgenossen in Güterwaggons nach dem Osten zur Vernichtung abtransportiert werden. Irgendwie schaffte er es, sich eine Zange zu organisieren. Auf dem Weg durch Belgien gelang es ihm, damit den Waggon aufzubrechen und aus dem fahrenden Zug zu springen. Belgische Bauern fanden und versorgten ihn, bis die Amerikaner im Frühjahr 1945 einrückten und er befreit wurde.
Als er sich nach Kriegsende mit seinen Brüdern in den USA in Verbindung setzt, ermöglichen sie ihm die Ausreise nach Amerika. Er arbeitet dort wieder als Metzger und heiratet noch einmal. Willi Blumenthal besucht noch einmal seine Heimat in Rössing, 1983  stirbt er in New York.

Hermann Blumenthal

Er war der zweitälteste der fünf Brüder und nicht verheiratet. Er wohnt zeitlebens bei der Familie seines ältesten Bruders Gustav, mit dem ihn eine enge geschäftliche und menschliche Beziehung verbindet. In Bochum sind sie Inhaber oder Teilhaber eines größeren Textilgeschäftes oder -kaufhauses und sehr wohlhabend. Nachdem die Nazis sie enteignet und ihr Geschäft „arisiert“ haben,  eröffnen sie ein kleines Etagengeschäft für Stoffe und Kurzwaren. Als ihnen am 9. November 1938 auch diese Existenz zerstört wird und sie ins Konzentrationslager nach Sachsenhausen gebracht werden, schmieden sie, als sie nach sechs Wochen entlassen werden, notgedrungen Auswanderungspläne.

Hermann erlernt in weiser Voraussicht das Schweißen, um sich eventuell mit einem handwerklichen Beruf durchzuschlagen - was sich als sehr nützlich erwies, als ihm im Frühjahr 1940 die Ausreise in die USA nach Überwindung großer Schwierigkeiten gelingt. Dort findet er wirklich Arbeit als Schweißer und arbeitet an zwei Stellen, um die Bürgschaften für seinen Bruder und dessen Familie zusammen zu bringen, damit auch sie in die USA ausreisen können.

Gustav Blumenthal

Gustav Blumenthal lebte mit seiner Familie in sehr guten Verhältnissen, bevor der Terror gegen die Juden das glückliche Familienleben zerstört. Sein Sohn Werner muß als Fünfzehnjähriger Schüler, ebenso wie seine drei Jahre jüngere Schwester Lore, das Gymnasium verlassen. Er besucht dann eine „ORT-Schule“ bei Berlin, um eine Schlosserlehre zu machen. Mit Hilfe eines internationalen Schutzprogramms für gefährdete Jugendliche gelangt er noch  vor Beginn des Krieges nach England. Seine Eltern sieht er erst 1946 wieder. Seine Schwester Lore kommt, ebenfalls mit einem Kinderschutzprogramm,  vorübergehend nach Holland.
 
Als sich Gustav Blumenthal, dem Vater, die Chance bietet, eine Stellung in einem Reisebüro bei Hapag-Lloyd zu bekommen, schafft er es mit Glück und einem nicht legalen Trick , eine Schiffs-Passage für sich und die Familie zu erhalten. Im Sommer 1941 reist die Familie in die USA aus und schwört, niemals im Leben wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen – sie haben diesen Schwur gehalten und können es absolut nicht verstehen, als ihr Sohn Werner wieder nach  Deutschland zurück will. Sie leben bis zu ihrem Tode in New York. Gustav stirbt 1966 mit 73 Jahren,  Hermann 1978 mit 81 Jahren und Gustavs Frau Erna 1982 mit 87 Jahren.

200 Jahre jüdische Geschichte in Rössing (18)


Familienschicksale: Der letzte Teil der Tragödie beginnt 

Eine Reihe von „streng vertraulichen“ Schriftstücken der Gestapo (Geheimen Staatspolizei) an den Landrat in Springe, die sich damit befassten, wie  mit den Juden verfahren werden sollte, wurden nur den obersten Spitzen der Behörden zugestellt. Die untergeordneten Instanzen bekamen immer nur Teilaufträge, so daß die Wenigsten den  schaurigen Weg, den die Juden gehen mußten, vollständig übersehen konnten.

Am 25. März 1942  werden der Familie Blumenthal vier Verfügungen zugestellt, für jedes Familienmitglied eine. Sie hätten sich drei Tage später, am 28. März 1942, zum Abtransport mit einem LKW bereitzuhalten. Es handelt sich um Karl (47), seine Frau (43), Tochter Hanna (14) und Sohn Hans-Jürgen (11).

            Jeder zu evakuierende Jude muß mitbringen
            1.) 1 Koffer oder Rucksack mit Ausrüstungsstücken
                        (kein sperrendes Gut) bis 50 kg
            2.) Vollständige Bekleidung (ordentliches Schuhwerk)
                        Bettzeug mit Decken (keine Matratzen)
            3.) Transportverpflegung für etwa 3 Tage,
                        Essgeschirr (Teller oder Topf mit Löffel)

Offiziell hieß es, es ginge zum Arbeitseinsatz nach Polen. Ein LKW mit Anhänger sammelte die Juden aus dem Landkreis Springe auf vorgeschriebener Route am 28. März 1942 im Laufe des Vormittags ein. Die zweiköpfige Begleitmannschaft musste von der Gendarmerie gestellt werden, nicht von einer uniformierten NS-Organisation. Der Abtransport wäre sonst wohl weniger problemlos verlaufen. Der Transport ging zunächst zur Israelitischen Gartenbauschule nach Hannover-Ahlem. Dort war ein Sammellager eingerichtet,  und am 31.März 1942, also drei Tage später, ging ein Transportzug vom Bahnhof Fischerhof nach Trawniki bei Lublin ab.

Die nüchterne Sprache der aufgefundenen Aktenstücke ist erschreckend, wenn man weiß, daß es sich um eine Reise ohne Wiederkehr handelte.

Das vierseitige „vertrauliche“ Schreiben der Gestapo vom 19. März 1942 an den Landrat betr. der „Abwanderung" der Juden nach Trawniki bei Lublin in Polen, der die Einzelheiten der Abschiebung regelt, ist im Original erhalten. Da die Originalschriftstücke auf sehr schlechtem, vergilbtem Kriegspapier geschrieben  sind, werden hier nur einige Auszüge zitiert:
Seite 1
Der Transportzug D a 6 (sogenannter Koppelzug) wird fahrplanmäßig
am 31.März 1942 um 12,12 Uhr in Gelsenkirchen eingesetzt und trifft mit 400 Juden der Staatspolizeileitstelle Münster um 18,15 Uhr in Hannover, Bahnhof Fischerhof, ein. Hier erfolgt die Zuladung der für Hannover (bzw. Hildesheim) abzuschiebenden 500 Juden und die Einrangierung der benötigten Güterwagen und des B-Wagens für das Begleitkommando der Schutzpolizei. Um 18,36 Uhr fährt der Transportzug nach Braunschweig weiter und trifft dort um 20,05 Uhr ein. Die Staatspolizeileitstelle Braunschweig ladet die von ihr vorgesehen Juden (116) und das zugehörige Gepäck zu, so daß die endgültige Weiterfahrt des D a 6-Transportzuges nach Trawniki bei Lublin um 20.16 Uhr erfolgen kann.

Die Auswahl der von der Maßnahme betroffenen Juden für die Regierungsbezirke Hannover und Hildesheim trifft die Staatspolizeileitstelle Hannover.

Nicht abgeschoben werden zunächst:
1.    In deutsch-jüdischer Mischehe lebende Juden
2.    Juden ausländischer einschließlich sowjetrussischer Staatsangehörigkeit-----
3.    In geschlossenen kriegswichtigen Arbeitseinsatz befindliche Juden------

Seite 2 / 3
Ehetrennung, sowie Trennung von Kindern bis zu 14 Jahren von den Eltern ist zu vermeiden.

Jeder abzuschiebende Jude hat sein Bargeld, seine Wertpapiere, Sparkassenbücher, sonstige Wertgegenstände, wie Schmucksachen, Ringe, Halsketten, Armbänder usw. bei seiner Festnahme bei sich zu führen. Alle diese Gegenstände werden ihm bei der Durchsuchung der Koffer und der Leibesvisitation im Sammellager Ahlem abgenommen. Keinesfalls dürfen Juden Bargeld oder Wertgegenstände auf dem Transport mitnehmen. Nur Eheringe dürfen den Juden belassen werden.

Für die aus dem Regierungsbezirk Hildesheim abzuschiebenden Juden werden vorstehend bezeichnete Sachen von der Außenstelle Hildesheim bereits in eigener Zuständigkeit abgenommen.
Alles bewegliche und unbewegliche Vermögen der abzuschiebenden Juden wird mit Rückwirkung vom 1.3.1942 staatspolizeilich beschlagnahmt und eingezogen. Die Verwertung des eingezogenen Judenvermögens wird der Oberfinanz-präsident durchführen.
Über die Kosten des LKW-Transportes wird der Gestapo vom Landkreis eine Rechnung zugestellt.

Der Befehl für diesen LKW-Transport wurde nicht schriftlich erteilt, sondern bezog sich auf eine mündliche Anweisung vom 10. Januar 1942, die die Gestapo dem Landrat übermittelt hatte.

Quelle: NHSA Hann 174 Springe 162

In der Einwohnerliste der Juden in Rössing wurden die Namen dann einfach durchgestrichen. Unter “Bemerkungen“ steht bei jedem Einzelnen:     „evakuiert am 28. März.1942“

Der Gendarmerieeinzelposten Rössing vermeldet ganz lapidar dem Landrat am 29. März.1942 Vollzug mit dem Bericht, daß die Familie Blumenthal in Rössing am 28. März.1942 nach dem Osten abtransportiert worden ist.

Quelle: NHSA  Hann 174 Nr. 162

Nachtrag
Bei ihrem Abtransport ahnte Familie Blumenthal noch nicht, was ihr bevorstand. Sie glaubten an einen Arbeitseinsatz in Polen und daß man sie dort in Polen zusammen ansiedeln würde. Frau Blumenthal hatte ihre Nähmaschine in die Gepäckaufbewahrung zum Bahnhof Barnten gebracht, eine Nachbarin sollte sie ihr nachschicken, wenn sie ihre neue Adresse hätte, damit sie sich durch Nähen etwas dazuverdienen könnte. Was wirklich geschah, hätte sich niemand vorstellen können. 

Karl Algermissen aus Rössing hat als Soldat in Polen Karl Blumenthal noch einmal in der Nähe von Warschau bei Gleisarbeiten in einem erbärmlichen Zustand getroffen: „Karl, was machst Du denn hier?“ fragte er ihn ganz entsetzt. „Geh weiter, geh weiter“ sagte dieser nur. Am nächsten Tag wollte Algermissen ihm etwas zu Essen bringen, aber er hat Karl Blumenthal nicht wieder getroffen. Das war das letzte Lebenszeichen von der Familie Blumenthal. Wie sie alle gestorben sind, wissen wir nicht.

Der Hausrat der Familie Blumenthal wurde auf dem Hof ihres Hauses versteigert und der Erlös dem Finanzamt zugeführt.


200 Jahre jüdische Geschichte in Rössing (17)


Familienschicksale: Jugendtransporte ins Ausland
.
Ein besonderes Kapitel der rassistischen Judenverfolgung im NS waren die Transporte jüdischer Kinder ins Ausland. Es gab ausländische Organisationen, die Hilfsprogramme für gefährdete Jugendliche in Deutschland organisierten. Wenn den Eltern die Ausreise noch nicht gelang, sahen sie darin eine Chance, zumindest ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Das geschah mit Billigung der NS-Behörden.

Auch die beiden Kinder von Gustav Blumenthal in Bochum, Werner und Lore, kamen in den Genuß solcher Maßnahmen, die Kinder ins europäische Ausland zu evakuieren, um sie dem Zugriff der Nazis zu entziehen.

Nachdem der Besuch der öffentlichen Schulen für jüdische Kinder verboten war, wurde Werner Blumenthal von seinem Vater nach Berlin gebracht, wo er in einer jüdischen Bildungsanstalt einen praktischen Beruf erlernen sollte. Nach der sog. Kristallnacht am 9. November 1938 wurde er von Berlin aus nach England geschickt. Mit Beginn des Krieges wurde er dort aber als feindlicher Ausländer interniert und nach Kanada verbracht, wo er fünf Jahre hinter Stacheldraht saß, bevor er wieder nach Deutschland zurückkehren konnte.

Seine Schwester Lore kam in ein holländisches Kloster, bevor die Deutschen in die Niederlande einfielen, während sich ihre Eltern krampfhaft um eine Ausreisemöglichkeit bemühten. Sie litt furchtbar unter Heimweh und fühlte sich todunglücklich. Als die Eltern glaubten, eine Ausreisechance nach Kuba zu haben, durfte sie zurückkommen. Aber diese Chance zerschlug sich wie so viele, und erst zum 27. Mai 1941 erhielten sie ihr Visum zur Einreise in die USA, die sie nach dramatischen Zwischenfällen am 25. August 1941 erreichten.

Die Kinder von Karl Blumenthal,  Hanna und Hans-Jürgen,  hatten nicht so viel Glück. Sie hielten sich wiederholt längere Zeit in Hannover auf. Einmal war Hanna „Auf dem Emmerberg 31“ gemeldet und seit dem 7.4.1939 in Ahlem in der Israelitischen Gartenbauschule,  wo sie noch Schulunterricht erhielt, zeitweilig zusammen mit ihrem Bruder Hans-Jürgen. Das Mädchenheim der Schule war im März 1941 von der Feuerschutzpolizei belegt worden, dann richtete die Stadt Hannover dort ein Ausweichkrankenhaus ein. Seit Ende 1941 dienten das Direktorenhaus und andere Gebäude der Schule als Sammellager für die Juden der Regierungsbezirke Hannover und Hildesheim, die in osteuropäische Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert werden sollten. Am 23. Juli 1942 wurde sie ganz geschlossen und von der Gestapo übernommen.

Der Landrat forderte am 23. Dezember 1941 und am 30. Januar 1942 noch einmal genaue Angaben über die Familie Blumenthal und den Aufenthalt der Kinder an, die zu diesem Zeitpunkt wieder in Rössing waren. Sie wurden einige Wochen später zusammen mit ihren Eltern nach Polen deportiert.
             
Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß nach dem 2. Weltkrieg wurde festgestellt, daß am 31.Juli.1941 der Befehl zur sog. „Endlösung" der Judenfrage durch Vernichtung erteilt worden sei. Dieses Datum wird aber heute in Frage gestellt. Die NS- Gesetzgebung war schon viel früher auf  den Holocaust perspektiviert.


200 Jahre jüdische Geschichte in Rössing (16)


Familienschicksale: Terror gegen Familie Blumenthal

Die Veränderung des Denkens gegen Juden machte auch vor dem Dorf Rössing nicht halt, und schon vor Hitlers „Machtergreifung“ wuchs die Angst in der Familie. Sofort nach dem 30. Januar 1933 setzten die staatspolitischen Maßnahmen ein. Am 1. April 1933 verkündete Julius Streicher den organisierten Judenboykott. Der Titel auf der ersten Seite des „Stürmers“, dem wüsten Hetzblatt der SA, lautete:

Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter

Und so prangte es an allen Litfasssäulen.Das blieb , auch in Rössing, nicht ohne Wirkung. Blumenthals Schlachterei ging zurück. Am 9. November 1938, als die Synagogen brannten und in einer organisierten Aktion die jüdischen Geschäfte und Wohnungen demoliert und geplündert wurden, wurden auch Blumenthals ein Opfer der Hetze. Augenzeugen berichteten, dass ein ortsfremder Autofahrer aus Richtung Nordstemmen kam, vor ihrem Haus anhielt und mit der Anlasserkurbel die geschlossenen hölzernen Fensterläden und die Scheiben zerschlug. Ein paar Jungen, die das mit angesehen hatten, fanden das aufregend und schmissen noch ein paar Steine hinterher, während die Familie Blumenthal total verängstigt auf ihren Betten im Schlafzimmer saß. 

Schon seit 1936 durften jüdische Kinder nicht mehr am Schulsportfest teilnehmen, und ab 1937 wurde ihnen der Besuch der allgemeinen Lehranstalten ganz verboten. Von den beiden Kindern Hanna, Jahrgang 1928, und Hans-Jürgen Blumenthal, Jahrgang 1931, konnte Hanna noch drei Jahre die Rössinger Schule besuchen. Die jüdische Kultusgemeinde in Hannover versuchte durch kulturelle Maßnahmen die weitere Schulbildung der Kinder zu übernehmen und Hanna wurde am 12. April 1937 nach Hannover abgemeldet.

Als sich nach dem 9. November 1938 niemand mehr getraute bei Blumenthals zu kaufen, mußten sie die Schlachterei schließen. Damit löste sich auch der geschlossene Familienverband der Blumenthals auf. Die Oma war gestorben, Hanna war in Hannover, Karl Blumenthal fand eine Stelle als Arbeiter beim Betonwerk R. Grasdorf in Hannover Wülfel, und die Familie lebte still und zurückgezogen und so unauffällig wie möglich im Dorf.

Druck und Diskriminierung

1935 waren den Juden ihre Staatsbürgerrechte aberkannt worden. Punkt 4 in Hitlers Parteiprogramm lautete:

Volksgenosse kann nur sein, wer arischen Blutes ist,
also kann kein Jude Volksgenosse sein.

Damit waren die Juden rechtlos wie im Mittelalter und unbegrenzt besteuerbar. Nach der Reichskristallnacht am 9. November 1938 wurden sie mit einer Sondersteuer belegt als Strafe dafür, wie es hieß, daß der Jude Herschel Grynspan den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath in Paris erschossen hatte. Außerdem wurde die Kennzeichnung von jüdischen Pässen angeordnet. Sie wurden auf der Aussenseite mit einem 3 cm großen J versehen und die Passinhaber damit für alle sichtbar als Juden gekennzeichnet.

Viele Juden bemühten sich um Auswanderung, dabei wurden Teile ihres Vermögens als Sonderabgabe einbehalten.
Diese betrug bei Vermögen
            bis       1.000 RM      nichts
            1.000  5.000 RM      0,5 %
            5.000  10.000.RM    1,0 %

Bei einem Vermögen von 800 000 RM bis 1 Mio RM wurde sie als Reichsfluchtsteuer bis auf 10 % gesteigert.

Eine Reihe von Schriftstücken der Gestapo (Geheimen Staatspolizei) an den Landrat in Springe, die sich damit befassten, wie mit den Juden verfahren werden sollte, waren so brisant, daß sie mit dem Stempel „streng vertraulich“ versehen wurden.

Manchmal wurde die Ausreise der Juden von den Behörden gefördert, manchmal erschwert. Einmal weist der Reichsführer der SS die Gestapo an, daß die Landräte ab 1.Januar 1939 keine Dringlichkeitsbescheinigungen für Auslandsreisen jüdischer Mitbürger mehr ausstellen dürfen ; das hätte die Ausreise beschleunigt. So hat man mehr Zeit, sich die jüdischen Vermögen anzueignen.

Am 28.Februar 1939 wird die Förderung der Auswanderung minderbemittelter Juden angeordnet. Ohne Vermögen waren sie uninteressant und man wollte sie loswerden.
Aber auch das Ausland sperrte sich gegen die Aufnahme vor allem armer Juden. Verwandte mußten Bürgschaften übernehmen, andere hatten kaum eine Chance auszureisen.
Am 1.September 1941 erging der Befehl zum sichtbaren Tragen des etwa 10 cm großen gelben Judensterns und zur Führung israelitischer Vornamen für die Juden.


Zwangsverkauf des Hauses

Am 24. Juni 1939 ergingen vom Landrat in Springe an alle jüdischen Familien Verkaufsaufforderungen betreffend ihrer Immobilien. Karl Blumenthal hatte schon am 6. Juni 1939 sein Haus an Otto Altendorf verkauft , nicht freiwilllig, versteht sich. Bei diesen Zwangsverkäufen mußten die arischen Käufer die Verkaufssumme an den Staat bezahlen. Von der Verkaufssumme erhielten die Verkäufer nur einen Bruchteil, das meiste behielt der Staat ein. Daher kamen nach dem Krieg die Differenzen zwischen den Alteigentümern und den Käufern, die in der Regel alles noch einmal bezahlen mussten.

Blumenthals durften in ihrem Hause nur noch eine kleine Küche und zwei Zimmer bewohnen. Trotz ihres früheren guten Leumunds mied man die Familie.

Inzwischen war Krieg, die Lebensmittel wurden rationiert und die Juden bekamen erheblich kleinere Rationen auf ihre Lebensmittelkarten. Zwar gab es auch Beweise von nachbarschaftlicher Hilfe, etwa, wenn ihnen heimlich an der Hintertür beim Melken ihre Kanne mit Milch gefüllt wurde oder die andern Hausbewohner einen Topf mit Mittagessen hinstellten. Aber es durfte keiner sehen, alle hatten Angst, als „Volksverräter" zu gelten. Die Familie des Schäfers Schmieding stand Todesängste aus, weil dieser für die Blumenthals ein Schaf geschlachtet hatte.

Alle Tiere waren registriert und es wurde kontrolliert, ob die Anzahl der registrierten Tiere stimmte. Bei Opa Harke am Leinkamp ging es um Ziegen, als Karl Blumenthal eines Abends verstohlen an sein Fenster klopfte: „Kannst Du mir nicht noch einmal eine Ziege verkaufen?“ Aber diesmal ging es nicht. Der Enkel, der das damals mit ansah, berichtete es unter Tränen.

200 Jahre jüdische Geschichte in Rössing (15)


Familienschicksale: Ferien bei den Großeltern:  Werner Blumenthal erzählt

Beim Verfassen seiner Familienchronik im Jahr  2003 berichtet Werner Blumenthal (geb.1923) in der Rückschau, wie er die Schulferien in den 1920er und 1930er Jahren zusammen mit seiner Schwester Lore bei seinen Großeltern Sophie und Moritz Blumenthal und den Brüdern seines Vaters in Rössing erlebt hat.
           
--- Das einfache und arbeitsreiche Leben auf dem Lande – etwa einen Kilometer vom Haus entfernt bewirtschafteten sie zugleich einen Acker (11/4 Morgen)– hatte sie geprägt und zu geachteten Mitgliedern der dörflichen Gemeinde gemacht.
Sie hatten fünf Söhne, mein Vater Gustav war der älteste von ihnen. Danach kamen Karl, Hermann, Robert und Willi. Schon die Wahl der Namen ihrer Kinder verweist darauf, dass sie trotz ihres bewusst und strikt gelebten Judentums uneingeschränkt und selbstverständlich Deutsche waren.
Die Kneipe gegenüber ihrem Haus war für die männlichen Familienmitglieder ebenso sozialer Treffpunkt wie für den Rest der Einwohner des Dorfes. –

--- Oma Sophie hatte gewiss kein leichtes Leben. Familie, fünf Kinder, Haus und Laden zu  bewirtschaften, dazu noch Garten und „Land“. Der koschere Haushalt verlangte zusätzliche Mühe durch die gebotene strenge Trennung zwischen „fleischigen“ und „milchigen“ sowie sonstigen Lebensmitteln und dem dazugehörigen Geschirr, Besteck usw.

---Freitagsabends wurde auf feierliche Weise mit dem Abendessen in der guten Stube der Sabbat eingeläutet. Oma zündete die beiden Kerzen an und segnete die „Challe“, den selbstgebackenen geflochteten Mohnstuten, der zunächst unter einer geklöppelten Zierdecke lag. Jeder bekam ein Stück und aß es mit Salz zur Feier des Tages.---

---Des öfteren begleitete ich Onkel Karl zur Arbeit auf dem Stück Land, auf dem vornehmlich Kartoffeln und diverse Gemüse für den Hausbedarf angebaut wurden. Mit Freude und viel Anstrengung zog ich den kleinen Bollerwagen dorthin, ein gutes Stück auf der Landstraße entlang. Damals bestand noch kaum die Gefahr, von einem Auto angefahren zu werden. Für mich als Stadtkind war es fast eine Offenbarung, eine frische Möhre aus dem Beet ziehen und sie essen zu können, Salat zu schneiden, Kartoffeln auszubuddeln.---

Werner Blumenthal erinnert sich lebhaft an die ungeheizten Schlafkammern im Winter, das dicke Federbett, auf dem sich bis zum Morgen durch die Atemluft eine richtige dünne Eisschicht bildete - und an das eisig kalte Plumpsklo. Aber besonders beeindruckt hat ihn offensichtlich der Besitz eines eigenen Stück Landes, durfte doch bis Mitte des 19. Jahrhunderts kein Jude nach dem Gesetz Acker- oder Gartenland besitzen.
Willi Blumenthal, der jüngere Bruder von Karl, war auch Schlachter, arbeitete bei seinem Vater in der Metzgerei und belieferte mit Pferd und Wagen Kunden in der näheren und weiteren Umgebung, wobei Werner ihn begleiten durfte. Außerdem besaß er ein Motorrad und brauste gern mit ihm auf dem Soziussitz durch die Gegend.

Moritz Blumenthal starb 193O, und Karl übernahm die Schlachterei, während  Moritz‘ Frau Sophie noch bis 1938 lebte. Diese beiden sind die letzten, die auf dem jüdischen Friedhof beerdigt wurden.

Nach einer Liste der jüdischen Einwohner vom 1.10.1935  umfaßte der Haushalt noch folgende Personen:

 Name                  Vorname             Beruf              Geburtstag    Geb.Ort          Bemerkungen

1. Blumenthal  Karl                        Schlachter      2.  3. 1895   Rössing
2.          "           Henny                     Ehefrau         22.11. 1899   Emden
3.         "            Hanna                     Tochter            6   3. 1928   Rössing            
4.            "         Hans-Jürgen          Sohn                7.11. 1931   Rössing        
5.            "         Sophie                    Witwe             18.  4. 1866   Lüthorst           
6.             "        Willi                          Sohn zu 5     30.12. 1901   Rössing         verzogen n..   
7.Gaup            Auguste                  Hausangest.   2.  3. 1910   Roßlau a,d,Elbe     
8 Blumenthal             Robert Sohn zu 5  Kaufmann    23.  6. 1900   Rössing             "     

Quelle: NHSA Hannover, Sign. Hann 174 Springe Nr. 162