Familienschicksale:
Der letzte Teil der Tragödie beginnt
Eine Reihe von „streng vertraulichen“ Schriftstücken der
Gestapo (Geheimen Staatspolizei) an den Landrat in Springe, die sich damit
befassten, wie mit den Juden verfahren
werden sollte, wurden nur den obersten Spitzen der Behörden zugestellt. Die
untergeordneten Instanzen bekamen immer nur Teilaufträge, so daß die Wenigsten
den schaurigen Weg, den die Juden gehen
mußten, vollständig übersehen konnten.
Am 25. März 1942
werden der Familie Blumenthal vier Verfügungen zugestellt, für jedes
Familienmitglied eine. Sie hätten sich drei Tage später, am 28. März 1942, zum
Abtransport mit einem LKW bereitzuhalten. Es handelt sich um Karl (47), seine
Frau (43), Tochter Hanna (14) und Sohn Hans-Jürgen (11).
Jeder
zu evakuierende Jude muß mitbringen
1.)
1 Koffer oder Rucksack mit Ausrüstungsstücken
(kein
sperrendes Gut) bis 50 kg
2.)
Vollständige Bekleidung (ordentliches Schuhwerk)
Bettzeug
mit Decken (keine Matratzen)
3.)
Transportverpflegung für etwa 3 Tage,
Essgeschirr
(Teller oder Topf mit Löffel)
Offiziell hieß es, es ginge zum Arbeitseinsatz nach Polen.
Ein LKW mit Anhänger sammelte die Juden aus dem Landkreis Springe auf
vorgeschriebener Route am 28. März 1942 im Laufe des Vormittags ein. Die
zweiköpfige Begleitmannschaft musste von der Gendarmerie gestellt werden, nicht
von einer uniformierten NS-Organisation. Der Abtransport wäre sonst wohl
weniger problemlos verlaufen. Der Transport ging zunächst zur Israelitischen
Gartenbauschule nach Hannover-Ahlem. Dort war ein Sammellager
eingerichtet, und am 31.März 1942, also
drei Tage später, ging ein Transportzug vom Bahnhof Fischerhof nach Trawniki
bei Lublin ab.
Die nüchterne Sprache der aufgefundenen Aktenstücke ist
erschreckend, wenn man weiß, daß es sich um eine Reise ohne Wiederkehr
handelte.
Das vierseitige „vertrauliche“ Schreiben der Gestapo vom 19.
März 1942 an den Landrat betr. der „Abwanderung" der Juden nach Trawniki
bei Lublin in Polen, der die Einzelheiten der Abschiebung regelt, ist im
Original erhalten. Da die Originalschriftstücke auf sehr schlechtem, vergilbtem
Kriegspapier geschrieben sind, werden
hier nur einige Auszüge zitiert:
Seite 1
Der
Transportzug D a 6 (sogenannter Koppelzug) wird fahrplanmäßig
am
31.März 1942 um 12,12 Uhr in Gelsenkirchen eingesetzt und trifft mit 400 Juden
der Staatspolizeileitstelle Münster um 18,15 Uhr in Hannover, Bahnhof
Fischerhof, ein. Hier erfolgt die Zuladung der für Hannover (bzw. Hildesheim) abzuschiebenden
500 Juden und die Einrangierung der benötigten Güterwagen und des B-Wagens für
das Begleitkommando der Schutzpolizei. Um 18,36 Uhr fährt der Transportzug nach
Braunschweig weiter und trifft dort um 20,05 Uhr ein. Die
Staatspolizeileitstelle Braunschweig ladet die von ihr vorgesehen Juden (116)
und das zugehörige Gepäck zu, so daß die endgültige Weiterfahrt des D a
6-Transportzuges nach Trawniki bei Lublin um 20.16 Uhr erfolgen kann.
Die
Auswahl der von der Maßnahme betroffenen Juden für die Regierungsbezirke
Hannover und Hildesheim trifft die Staatspolizeileitstelle Hannover.
Nicht abgeschoben werden
zunächst:
1. In deutsch-jüdischer Mischehe lebende
Juden
2. Juden ausländischer einschließlich
sowjetrussischer Staatsangehörigkeit-----
3. In geschlossenen kriegswichtigen
Arbeitseinsatz befindliche Juden------
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Ehetrennung,
sowie Trennung von Kindern bis zu 14 Jahren von den Eltern ist zu vermeiden.
Jeder abzuschiebende Jude hat sein
Bargeld, seine Wertpapiere, Sparkassenbücher, sonstige Wertgegenstände, wie
Schmucksachen, Ringe, Halsketten, Armbänder usw. bei seiner Festnahme bei sich
zu führen. Alle diese Gegenstände werden ihm bei der Durchsuchung der Koffer
und der Leibesvisitation im Sammellager Ahlem abgenommen. Keinesfalls dürfen Juden
Bargeld oder Wertgegenstände auf dem Transport mitnehmen. Nur Eheringe dürfen
den Juden belassen werden.
Für
die aus dem Regierungsbezirk Hildesheim abzuschiebenden Juden werden vorstehend
bezeichnete Sachen von der Außenstelle Hildesheim bereits in eigener
Zuständigkeit abgenommen.
Alles
bewegliche und unbewegliche Vermögen der abzuschiebenden Juden wird mit
Rückwirkung vom 1.3.1942 staatspolizeilich beschlagnahmt und eingezogen. Die
Verwertung des eingezogenen Judenvermögens wird der Oberfinanz-präsident
durchführen.
Über
die Kosten des LKW-Transportes wird der Gestapo vom Landkreis eine Rechnung
zugestellt.
Der Befehl für diesen LKW-Transport wurde nicht schriftlich
erteilt, sondern bezog sich auf eine mündliche Anweisung vom 10. Januar 1942,
die die Gestapo dem Landrat übermittelt hatte.
Quelle: NHSA Hann 174 Springe 162
In der Einwohnerliste der Juden in Rössing wurden die Namen
dann einfach durchgestrichen. Unter “Bemerkungen“ steht bei jedem Einzelnen: „evakuiert
am 28. März.1942“
Der Gendarmerieeinzelposten Rössing vermeldet ganz lapidar
dem Landrat am 29. März.1942 Vollzug mit dem Bericht, daß die Familie
Blumenthal in Rössing am 28. März.1942 nach dem Osten abtransportiert worden
ist.
Quelle: NHSA Hann 174
Nr. 162
Nachtrag
Bei ihrem Abtransport ahnte Familie Blumenthal noch nicht,
was ihr bevorstand. Sie glaubten an einen Arbeitseinsatz in Polen und daß man
sie dort in Polen zusammen ansiedeln würde. Frau Blumenthal hatte ihre
Nähmaschine in die Gepäckaufbewahrung zum Bahnhof Barnten gebracht, eine
Nachbarin sollte sie ihr nachschicken, wenn sie ihre neue Adresse hätte, damit
sie sich durch Nähen etwas dazuverdienen könnte. Was wirklich geschah, hätte
sich niemand vorstellen können.
Karl Algermissen aus Rössing hat als Soldat in Polen Karl
Blumenthal noch einmal in der Nähe von Warschau bei Gleisarbeiten in einem
erbärmlichen Zustand getroffen: „Karl, was machst Du denn hier?“ fragte er ihn
ganz entsetzt. „Geh weiter, geh weiter“ sagte dieser nur. Am nächsten Tag
wollte Algermissen ihm etwas zu Essen bringen, aber er hat Karl Blumenthal
nicht wieder getroffen. Das war das letzte Lebenszeichen von der Familie
Blumenthal. Wie sie alle gestorben sind, wissen wir nicht.
Der Hausrat der Familie Blumenthal wurde auf dem Hof ihres
Hauses versteigert und der Erlös dem Finanzamt zugeführt.
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